Foto © Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath
Buh für Sänger – geht ja gar nicht. Schämen sollte man sich, bei dem, was einem aus Bayreuth wieder zu Ohren gekommen ist. Regisseure – klar, nur draufhauen, was das Zeug hält. Die lassen sich nach der Premiere nie wieder blicken. Deren Mist muss das Publikum meist jahrelang ertragen. Bei Sängern ist das aber ein absolutes NO-GO!
von Jürgen Pathy
Man stelle sich nur vor: Da geht man auf eine Bühne, singt teils stundenlang um sein Leben. Nur, um am Ende den schmerzhaften Pfeil tief in seiner offenen Wunde zu spüren. Ja, Sänger empfinden ein Buh direkt nach einer Vorstellung genauso. Sänger ist nämlich kein Beruf wie jeder andere.
Knochenjob Sänger
Historiker, Buchhalter, Mathematiker – die sitzen hinter Schreibtischen und brüten über Paragrafen oder Zahlen, an der Theorie. Genauso wie Regisseure. Die haben Monate, teils Jahre Zeit, um sich ihre Gedanken über ein Sujet zu spinnen. Sänger hingegen haben nur das Heute. Egal, wie lange sie sich auf eine Partie vorbereitet haben. Die gehen raus, legen einen emotionalen Striptease aufs Parkett und servieren ihre Seele auf einem blanken Silbertablett.
Gebt ihnen eine Chance, gebt ihnen Zeit, bis sie ihre Schutzschilder wieder hochgefahren haben. Am Ende einer Vorstellung sind sie „nackt“, Haut und Knochen, schutzlose Embryos, die von jeglichen Angriffen verschont werden müssen. Am Boden zerstört sei ein Sänger in Wien Mal gewesen. Weil er dieser Unsitte zum Opfer gefallen war. Ein Häufchen Elend, das sich nur ganz schwer wieder aufrichten konnte. Man muss Sängern eine Chance geben, bis sie wieder in ihrer Deckung verharren. Schonfrist, von mir aus.
Das Feuilleton erledigt’s – vor allem bei Jonas Kaufmann
Am nächsten Tag werden sie schon ihr blaues Wunder erleben. Damit müssen Personen des öffentlichen Lebens klarkommen. Dann steht im schlimmsten Falle „Totalversager“, bei kultivierten Kollegen, die mit dem Florett zu Kampfe ziehen: „Xy hatte einen schlechten Tag“, „indisponiert“ womöglich. Zumindest bei den meisten Sängern.
Nur einer unter ihnen, der muss sich blutige Säbelattacken schon regelmäßig gefallen lassen. Jonas Kaufmann wird hier nicht zu Unrecht oft bis ans Mark gescholten. Überheblichkeit, nennt man seine Schwäche. Eines seiner größten Mankos: Kein Gespür für Koketterie, mit der man zumindest den Anschein erwecken könnte: Ich bin nun wirklich nicht mehr „the greatest one“, nicht mehr „der beste Sänger“ dieser Welt – zumindest nicht ohne Wenn und Aber. Lässt der Startenor aus München leider komplett vermissen.
Sein Dilemma: Die Rollenauswahl verläuft oft asymmetrisch zur Entwicklung seiner angeschlagenen Stimme; die Geniestreiche – es gibt sie noch – werden seltener. Deshalb bekommt Kaufmann nun mal sein Fett ab. ABER: bitte auch erst am nächsten Tag.
Bayreuth muss nicht Mailand werden
Beim Bayreuther Festspielpublikum scheint es Sitte oder besser „Unsitte“, sich den Frust gleich nach der Vorstellung aus dem Leibe zu brüllen. In Mailand sind sie auch gefürchtet, die berühmten „Loggionisti“, oben auf den letzten beiden Rängen der Scala. Piotr Beczała, Cecilia Bartoli und Roberto Alagna – viele der großen Sänger und Sängerinnen mussten sich dort schon der Schelte stellen. Da kennt man keine Gnade.
In Wien hält es sich zumindest noch in Grenzen. Nur eine einzelne verstörte Seele, die kann es einfach nicht lassen. Buhs, derart verbittert, kraftvoll, einem Urknall gleichend, wie von dem übergewichtigen Stammgast auf der Galerie – die müssen Sänger andernorts nur selten fürchten.
Dass Bayreuth diesbezüglich ebenfalls Schlagzeilen macht, ist ein Schlag ins Gesicht für alle Sänger. Camilla Nylund nach der Tristan-Premiere, Günther Groissböck ebenso. Beide hatten die fragwürdige „Ehre“, dieser Unart dieses Jahr als Zielscheibe zu dienen. Tomasz Konieczny war in der Vergangenheit schon dran.
Emotionale Disbalance, hoher Blutdruck oder wagnerianischer Rauschzustand – mag sein, dass einigen gar die Hitze im Bayreuther Festspielhaus zu Kopfe steigt, dennoch: bitte schweigen! Der Regie auf die Finger klopfen, den Sängern eine Schonfrist gewähren.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 27. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
Wenn ich richtig informiert bin, wurde GG wegen seiner Haltung zum Vorstoß der „Kulturstaatsministerin“ kritisiert…
Was bezüglich Kaufmann von diversen Leuten, die ihre unmaßgebliche Meinung allen aufdrängen müssen, rausgehauen wird, ist schlicht unanständig. Wenn Schager daneben haut und seinen Text nicht kann oder – kaum zu fassen – die Kraft ausgeht, wird’s „entschuldigt“. Man braucht halt einen Prügelknaben und das muss dann schon der Beste der Besten sein!
Waltraud Becker
Der „Beste der Besten“ WAR einmal einer der Besten der Besten. Heute ist er meist ein Schatten seiner selbst.
AS
AS und JK – daraus entsteht in diesem Leben wohl keine Freundschaft mehr. Journalist hin oder her, ständig aber alles immer nur mies zu machen ist nicht mein Ding.
Jonas Kaufmann und seine Karriere – das ist ein Gesamtkunstwerk, welches im 21. Jahrhundert seinesgleichen sucht. Und diesen realen Traum lassen ich mir wie auch Frau Becker und viele andere durch niemanden zerstören.
Dank staatsoper.tv konnte ich mich übrigens gestern Abend wieder einmal eindrucksvoll davon überzeugen, dass die Zeit des „Tenors for the ages“ mit 55 noch lange nicht vorbei ist.
Franz Büchel
Ein Traum ist halt ein Traum….
AS
Bitte besuchen Sie LIVE-Auftritte von Jonas Kaufmann, lieber Herr Büchel.
Also vom Besten der Besten ist er mittlerweile meilenweit entfernt! Viele Jahre als Bariton mit Höhe agiert und den Zuhörern einen zugeschwollenen Hals beschert – daran kann ich nichts Gutes finden! Ich kann gut verzichten, damit ich nicht Buh rufe – aber eigentlich kann ich dies auch nicht, weil ich nach seiner Gesangsdarbietung heiser bin!
Viola-Bianka Kießling
Kaufmann war nie der Beste der Besten. Wohl war er der am meisten überbewertete Sänger seiner Zeit (und noch immer), die längst vergangen ist. Getragen meist von Damen, vorwiegend Älteren, die sich an seinem ehemaligen Latino-Look und den Löckchen ergötzten. Kaufmann singt und sang guttural, seine Stimme sitzt nicht in der Maske und ist von zu viel Verismo stark beschädigt. Falsche Lehrer, falsche Rollenwahl, zu wenig bis gar kein Mozart etc. Kaufmann ist dennoch arrogant und selbstverliebt. Wie erfrischend ist da die derzeit beste Sopranistin weltweit, Nadine Sierra, an der nichts künstlich oder aufgesetzt ist. Natürlich bis ins Mark. The very best girl next door unter
den Sängerinnen.
Franco Bastiano
Die großen Talente unter den jungen Belcantodamen, dazu fallen mir z.B. auch Lisette Oropesa und Pretty Yende ein, tun sich leicht, in den für sie passenden Rollen natürlich und authentisch zu sein. Ein alternder Startenor ist demgegenüber nicht zu beneiden, wenn er sieht, wie junge Männer wie z.B. Benjamin Bernheim, Jonathan Telenman und Pene Pati wirklich alles haben, um das Publikum zu begeistern. Er muss sich dafür entscheiden, die Kunst zu bieten, die zu ihm passt. Also etwa einen Otello, der als innerlich verstörter Charakter ganz anderes rüberkommen muss als nur mit Stimmschönheit. Und in dieser Rolle hat mich Kaufmann auch überzeugt.
Nach Bela Bartóks Meinung sind Wettbewerbe etwas für Pferde, aber nicht für Künstler. In diesem Sinne ist es auch nutzlos, einen Besten zu bestimmen oder auch der Beste sein zu wollen. Es muss ganz einfach die Rolle zur Persönlichkeit und den Fähigkeiten des Künstlers passen, dann kommt auch was zum Publikum rüber. Bei Nadine Sierra geht das derzeit richtig gut, aber was macht sie, wenn demnächst jüngere Talente in ihr Fach nachrücken?
Nachdenkliche Grüße,
Lorenz Kerscher
Was ist nur mit den Menschen los?? Sport und Musik hatten immer noch etwas Besonderes, einen Status. Jetzt werden diese Menschen, die ihr Bestes geben, ständig zerrissen, primitiv angefeindet. Sollen diese primitiven Kritiker oder Choleriker doch einmal diese Leistung bringen oder doch einfach von den Darbietungen fern bleiben. Diesen Spezies sollte man den Zugang zur Kunst verweigern. Ein Lob allen Künstlern. Besonders mies finde ich die Kommentare, die es bis jetzt zu den Festspielen gibt. Niemand ist perfekt und viele Kritiker sind armselig.
M. Zenzen
Generell ist das Buh eine Unart. Alle Beteiligten haben ihre Kraft, ihr Können und ihr Herzblut in die Inszenierung, die Proben und die Aufführung gepumpt. Wenn ich was nicht verstanden habe, wenn es mir nicht gefallen hat – erstmal meine Sache. Ich kann mich damit konstruktiv auseinandersetzen, vielleiht auch erstmal sacken lassen und überlegen, aus welchem Grund der Abend aus meiner Sicht nicht gelungen war. Vielleicht gibt’s gute Pausengespräche, eine erhellende Einführung oder Nachbesprechung, die einen Perspektivwechsel meinerseits anstoßen.
Ich erinnere gerne an den Jahrhundertring von Chéreau/Boulez, der von Protestaktionen bis zum bisher längsten Applaus der Festspielgeschichte binnen fünf Jahren geführt hat. Sicher auch, weil Menschen in ganz unterschiedlichen Möglichkeiten hatten, darüber zu diskutieren und sich auszutauschen.
Und wenn’s richtig schlimm war weil hingeschlampt? Dann kann ich den Applaus auf piano stellen, ganz boykottieren oder still gehen.
Das Buh abgewöhnen und etwas mehr Bravo wäre eine gute Sache!
Tim Schmidt
Lieber Herr Schmidt,
dazu fällt mir nur ein: Wenn die Leute nur wüssten, wie sie uns vernichten würden, wenn sie schweigend den Saal verlassen, hat August Everding mal kommentiert. „Buh“, das baue ihn nur unheimlich auf.
Jürgen Pathy
Lieber Jürgen,
gut auf den Punkte gebracht! Einschränkend hast Du ja in einem Kommentar bereits selbst auf Everding hingewiesen. Und der ist nicht alleine: So mancher Regisseur badet geradezu in Buhs, da es ihm am wichtigsten ist, irgendeine Emotion zu erzeugen. Diese bedeute die Auseinandersetzung mit dem Werk und seiner Inszenierung und sei sehr positiv zu bewerten. Tatsächlich sind aber leider so manche Regie-Ideen uninspiriert und nichtssagend. Hierauf gibt es daher nur eine passende Antwort: Schweigen.
Ich möchte aber eigentlich auf einen weiteren Aspekt aufmerksam machen. Eine in jüngeren Jahren in Deutschland und leider auch in Bayreuth (vor allem im letzten Jahr) um sich greifende Unsitte sind zu früh einsetzender Applaus und voreilige Bravo-Rufe. Dies kannte ich bis dahin vorwiegend aus dem Ausland (die Met ist da ganz „groß“). Wenn beispielsweise nach der letzten Note der Walküre der Klang nicht vollständig verschwinden darf, mit wenigstens 2 – 3 Sekunden Stille, dann verliert die Musik einen Teil ihrer Wirkung, schade. Wer meint, seine Kenntnis über das Ende eines Stücks zur Schau stellen zu können, in dem er als erstes Beifall bekundet, zeigt allzu oft, dass er die Musik doch nicht wirklich verstanden hat.
Bei dieser Gelegenheit noch eine Anekdote zum Thema Schweigen: Ich erinnere mich gut an eine Aufführung der Oper „Mittwoch aus Licht“ in Birmingham, an deren „offiziellen“ Ende im Saale absolute Stille herrschte. Erst nach etlichen Augenblicken, vielleicht einer Minute, begaben sich die ersten Leute, langsam, nach und nach, in den Nachbarraum, um bei „Mittwochs-Abschied“ die Oper ausklingen zu lassen. Diese Stille gehört zu den großartigsten Augenblicken meines Musikerlebens. Alle Zuhörer waren eins und im besten Sinne völlig aufgegangen in der Musik, nicht mehr von dieser Welt. Eine größere Zustimmung zum Werk und seiner Aufführung hätte es nicht geben können.
Es gibt für alles den rechten Augenblick: fürs Schweigen, für mageren oder großen Beifall und für Bravo-Rufe. Doch nur ganz selten (für mich persönlich bislang: nie) dürfte ein Buh die passende Antwort sein.
Herzliche Grüße
Guido
Lieber Guido,
herzlichen Dank für Deinen wunderbaren Kommentar, der so wahr ist.
Herzlich
Andreas
Anekdote aus der Deutschen Oper Berlin vor vielen Jahren: ein noch sehr junger Gregory Kunde sang in einer Rossini-Oper. Für mein Ohr war alles ganz fabelhaft. Aus irgendeinem Grund hat einer aus dem Publikum mitten in der Aufführung immer wieder Buh gebrüllt. Bis ein anderer gerufen hat „Sing doch selber“. Kurze Lachpause, weiter ging’s, der Buh-Rufer hat fortan die Klappe gehalten.
Bravo-Rufe sind was Schönes, es sei denn, der Rufende fühlt sich verpflichtet, seine Italienischkenntnisse überlaut zu Markte zu tragen und je nach Anzahl und Geschlecht der zu Bejubelnden mit der korrekten Wortendung anzugeben.
Überhaupt wäre ein Führerschein fürs Publikum auch mal eine Idee. Oder Eintritt nur mit bereits ausgewickelten Bonbons. Aber das nur am Rande.
Dr. Cornelia Nitschke
Sollten Sie sich einmal über einen das italienische Wort „bravo“ korrekt deklinierenden Bravorufer ärgern, könnte es sein, dass ich das bin. Das gefällt mir so, und ich habe nicht das Gefühl, damit irgendetwas zu Markte zu tragen.
Dr. Lorenz Kerscher
Großartige Idee, das mit den Bonbons und dem Führerschein! Was vor allem in Bayreuth mit dem Holzfußboden stört, ist das ständige Runterschmeißen von mobilen Endgeräten mit lautem „Klonk!“. Wahrscheinlich muß man jedesmal jemanden vor den Vorhang schicken, um es den Leuten NOCHMAL mitzuteilen, wie sie sich zu verhalten haben.
Was die Italienisch-Kenntnisse angeht, so ist das entsprechende Flektieren außerhalb Deutschlands gang und gäbe. In der Tat freut sich jede Sopranistin, wenn ihr ein „Brava“ entgegenschallt. Sei’s drum – besser ein paar Schnösel, die die Kunst schätzen, als Banausen, die sie zerstören.
Dr. Andreas Ströbl