Bogdan Roščić © Lalo Jodlbauer
Stoppt diesen Wahnsinn, bevor es zu spät ist: Im Haus am Ring soll Zeitgenössisches neben provokativem Regietheater gedeihen. Doch an der Wiener Staatsoper sehnt sich die Mehrheit nach Nostalgie und Harmonie. Protest und Ärger sind die Folge. Musikdirektor Philippe Jordan greift gar zu ungewöhnlichen Mitteln.
Das Problem des intellektuell hochgetunten Philosophie-Doktors, der seine Dissertation Adornos Hochergüssen gewidmet hatte: Roščić lässt ALLEINE den Kopf entscheiden. Bauchgefühl, Intuition und Herz – Fehlanzeige!
von Jürgen Pathy
Nach Kirill Serebrennikovs „Don Carlo“-Neuproduktion stehen die Zeichen auf Sturm. Das komplette Feuilleton dreht die Neuproduktion der Wiener Staatsoper durch den Fleischwolf. Kaum eine Stimme, die sich mit der Transformation von Schillers Historiendrama zu tagesaktuellen Themen arrangieren mag. Nackte Klimakleber auf der Opernbühne – Nein, Danke! König und Entourage als Bedienstete in einem Museum – möchte keiner sehen! Es kommt noch schlimmer.
Musikdirektor Philippe Jordan hisst die weiße Flagge
Selbst Philippe Jordan muss kapitulieren. Der noch amtierende Musikdirektor – Ende der Saison 2024 / 25 streicht er die Segel – hatte sich schon vor Monaten in den Clinch mit der Regie begeben. Dass der Schweizer nun wortwörtlich die weiße Flagge schwenken muss, ist eigentlich amüsant. Wäre es nicht ein Armutszeugnis für das Haus.
Tatsächlich passiert, im Graben der Wiener Staatsoper. Nachdem das Publikum lautstark protestiert, sieht Jordan keine andere Lösung. Weißes Tuch raus, Dirigentenstab hoch – schwuppdiwupp weiße Fahne, um die Wogen zu glätten. Mitten WÄHREND der „Don Carlo“-Premiere, weil der Unmut des Publikums bereits da kein Halten kennt. Ein intuitiver Akt, der Jordans Abgang Ende der Saison nur noch mehr Nachdruck verleiht.
Nach wilden Wortgefechten kann’s weiter gehen. Zum Ende ist die Luft raus. Der Shitstorm, in der Oper als „Buh“ definiert, fällt sogar milder aus als erwartet. Applaus gibt’s aber noch viel weniger. Nach gefühlten zehn Minuten ist der Saal leer. Zurück bleibt ein desaströser Eindruck, der eine Vermutung immer weiter verhärtet.
Irgendwo hat Musiktheater seine Grenzen
Es scheint, als hätte man Freude daran. An der Eskalation, an der Provokation, die Bogdan Roščić schon im Vorfeld als rhetorische Nadelstiche setzt. Bereits während der beliebten Sonntags-Matineen stichelt Roščić gegen das Publikum. In Vorahnung, dass die Welle der Entrüstung groß sein wird. Gegen die Regietheater-Neuproduktionen, die mit Claus Guth, Kirill Serebrennikov und dem Regie-Duo Wieler & Morabito über das Ziel hinausschießen. Serebrennikov ballt beim Schlussauftritt gar die Fäuste. So, als wäre es ein Sieg, wenn das Publikum vor Wut schäumt. Das scheint alles Programm.
Dass Musiktheater eine Botschaft bringen soll, die zeitgemäß ist, kann man dulden. Dass die aber mit aller Gewalt durchgezogen werden muss, davon ist nur Direktor Bogdan Roščić überzeugt. Vielleicht verwechselt er die Wiener Staatsoper mit dem Burgtheater. Luftlinie 1000 Meter, wo Intendant Martin Kušej mit seinem Führungsstil auch nicht weit gekommen ist. Seit September 2024 steht Stefan Bachmann dort an der Spitze.
Dem Publikum an der Wiener Staatsoper reicht’s auch bald. „Im Grunde hat die Oper NICHTS mehr mit Verdis „Don Carlo“ zu tun“, heißt es sogar im ORF. Dem österreichischen Rundfunksender, der sich mit so deutlichen Worten eigentlich zurückhält.
Staatsoperndirektor mit erhobenem Zeigefinger
Den Fehler, den Bogdan Roščić begeht, der liegt auf der Hand. Die Spitzen, die gegen ihn geschossen werden, sind zwar überzogen. Die Herren Roščić und Serebrennikov würden halt an ihre „Hybris glauben“, poltert man in den Sozialen Medien. „Wahrscheinlich können beide nicht einmal Noten lesen“, mündet es in Spott. Übelnehmen darf man es den ehemaligen Stammgästen des Hauses aber nicht. Denn Bogdan Roščić zieht den Ärger vieler hinter sich.
Sachlich betrachtet, meint er es womöglich gut. Roščić ist ein intelligenter Kerl. Dem kann man nichts so schnell vormachen. Das Problem des intellektuell hochgetunten Philosophie-Doktors, der seine Dissertation Adornos Hochergüssen gewidmet hatte: Roščić lässt ALLEINE den Kopf entscheiden. Bauchgefühl, Intuition und Herz – Fehlanzeige!
Dem gebürtigen Serben, der früher einmal dem Radiosender Ö3 zu Höhenflügen verholfen hat, fehlt das Fingerspitzengefühl. Wie weit man gehen darf, und ab wann man eine Grenze überschreitet. Zwischen dem Gleichgewicht an Regietheater-Produktionen und klassischer Oper, der auch die Jugend nicht abgeneigt sein dürfte. „Ich will keine modernen Inszenierungen sehen“, sagt eine junge Wienerin. Alter: unter zwanzig!
Die einzige Legitimation, die es gäbe, um diesen Raubbau an der Kunst zu akzeptieren, bleibt Roščić auch noch schuldig. Die Jugend für die Oper zu gewinnen. Das stand zu Beginn der Ära Roščić ganz groß auf dem „Wahlprogramm“. Die reagiert auch durchaus anders. Positiv, mit Verständnis für Serebrennikovs Kapitalismuskritik, mit der dieser die Gesellschaft einfach wachrütteln wolle. Nackte Zahlen ist die Direktion der Wiener Staatsoper aber schuldig geblieben.
Zahlen auf den Tisch
Ob die Jugendprogramme greifen, hat Bogdan Roščić noch nicht belegt. U27-Vergünstigungen, Generalproben für 10 €, vergünstigte Tickets bei ausgewählten Vorführungen. Aus technischen Gründen sei dies nicht möglich. Das ist die einzige Meldung, die man vor Monaten irgendwo aufschnappen konnte. Sollte Direktor Roščić das Allheilmittel gefunden haben, um die Oper vom Aussterben zu bewahren, müssen aber Beweise her.
Rein die Auslastungszahlen bringen keine Klarheit. Die laufen im Augenblick noch ganz ordentlich, blickt man auf die Geschäftsberichte. Coronahilfen hatten die Wiener Staatsoper in Ruhe durch die Krise getragen. Aktuell füllt man viele Vorstellungen aber mit vergünstigten Regiekarten. „Zuckerl“ für Verbände, Förderer und Vereine, die in letzter Sekunde per Promo-Code versendet werden.
So einfach darf Bogdan Roščić sich nicht aus der Affäre ziehen. Ein Direktor, dessen Vertrag bis Ende 2030 verlängert wurde, der muss Zahlen liefern. Hard facts, um die Sinnhaftigkeit dieser unbeliebten Regietheater-Produktionen zu begründen.
Ansonsten rollt diese Welle nur zu Gunsten einer Sache. Um die eigene intellektuelle Überlegenheit zu demonstrieren, und alle Nostalgiker als ewig Gestrige zu verhöhnen. Damit ist der Wiener Opernszene nicht geholfen. Die Generationenfrage ist die einzige akzeptable Rechtfertigung, ansonsten heißt es: Stoppt diesen Wahnsinn, bevor es zu spät ist.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 1. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Bogdan Roščić, Direktor Wiener Staatsoper (Pathys Stehplatz 2) klassik-begeistert.de
Giuseppe Verdi, Don Carlo Wiener Staatsoper, 26. September 2024 PREMIERE
Richard Wagner, Lohengrin Wiener Staatsoper, 29. April 2024 PREMIERE
Guten Morgen, Herr Pathy! Es freut, dass wir uns zwei auf derselben Wellenlänge befinden, was die Wiener Staatsoper betrifft! Ich gebe Ihnen mit Ihrer Darstellung der Missstände im Hause am Ring völlig recht. Das größte Problem, dass nämlich Direktor Roščić bis 2030 verlängert wurde, liegt in seiner „und jetzt erst recht Justament-Einstellung“. Solange er sich sicher fühlt, wird er weiterhin die Wiener Staatsoper demontieren. Ich wünschte, in der Lage zu sein, etwas Konkretes dagegen zu unternehmen – aber ich wüsste nicht was. Ob Roščić Noten lesen kann oder nicht, weiß ich nicht. Aber als „Verteidigung“, seine Dissertation über Adorno anzuführen, ist m.E. ein Eigentor. Herr Adorno meinte einmal, es sei im 20. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß, eine Symphonie in C-Dur zu komponieren… worauf Jean Sibelius seine Symphonie Nr. 7 komponierte… in C-Dur! So viel zum Team Adorno/Roščić…
Sheryl Cupps
Liebe Frau Cupps,
wir beide gleicher Meinung – dass ich das nochmal erlebe, hätte ich nicht gedacht.
Liebe Grüße
Jürgen Pathy
Es geschehen noch Zeichen und Wunder!!! Man kann verschiedene Meinungen über Sänger/innen, aber über den anscheinend vorprogrammierten Untergang der Wiener Staatsoper kann es m.E. NUR EINE Meinung geben, nämlich diejenige, die wir beide vertreten!
Sheryl Cupps
Ziemlich kühne Behauptung!
Waltraud Becker