Pathys Stehplatz 56: Jonas Kaufmann, Canio und die Frage: Wer füllt die Lücke?

Pathys Stehplatz 56: Wer füllt die Lücke?  klassik-begeistert.de, 12. Jänner 2025

Jonas Kaufmann © Gregor Hohenberg

Jonas Kaufmann. Da schau her, der Startenor im „Nest“! So nennt sich die neue Jugend- und Kinderoper, die als Zweigstelle der Wiener Staatsoper im Dezember 2024 offiziell eröffnet wurde. Nur einen Katzensprung vom Haupthaus entfernt, direkt vis-à-vis des Musikvereins, eine Schnittstelle zwischen Tradition und Gegenwart. Kameras hatten den Startenor dort freitags eingefangen. Ab Sonntag singt Kaufmann an der Wiener Staatsoper. Den Canio in Pagliacci, Ruggero Leoncavallos veristischer Oper aus dem Jahr 1892.

von Jürgen Pathy

Was dabei am meisten überrascht. Nein, nicht die Zweifel, ob Jonas Kaufmann der Partie noch gewachsen ist. Der Canio erfordert einen dramatischen Tenor mit großem Stimmvolumen. Vieles liegt im oberen Mittellagebereich, mit Passagen, die eine durchdringende Höhe verlangen.
Bis zum hohen B in „No, pagliaccio non son“. Nein, viel überraschender war es, dass er bis gestern auf der Homepage der Wiener Staatsoper „unterrepräsentiert“ war. Keine Spur, keine Schlagzeile à la „Kaufmann singt“.

Die Marketingabteilung hat’s beinahe verschlafen

Aber heute ist alles anders. Da lächelt einem der Startenor doch sofort entgegen. Scheint also, als hätte die Marketingabteilung nur etwas geschlafen. Ehrenmitglied Otto Schenk ist ja 94-jährig am Donnerstag verstorben. Der hatte die komplette Medienberichterstattung für sich beansprucht. Gefühlt ganz Österreich trauert um den Liebling der Nation, der aber nicht nur Befürworter hatte. Nix also mit „Beef“, wie die YouTube-Szene das bezeichnen würde. Kein „Streit“ im Hintergrund. Bis gestern hatte mir die Fantasie noch Streiche gespielt. Ändert aber nichts am Unmut. An der Sorge, wer in Kaufmanns Fußstapfen schlüpfen soll.

Es gibt kaum neue Stimmen, keine Lady, keinen Herren, die mich begeistern. Die mein Blut in Wallung versetzen wie ein Tomasz Konieczny als Wotan, wie ein Piotr Beczała als Cavaradossi. Und ja: Wie ein Jonas Kaufmann, der trotz seiner Schwächen, die ihn mittlerweile ereilt haben, trotz seiner Ups and Downs, noch immer in Euphorie versetzen kann.

Wenn Kaufmann sich nicht in der Rollenwahl vergreift, ist er zu Großem imstande. „Peter Grimes“, „Otello“, beides an der Wiener Staatsoper: Höhepunkte! Drauf gepfiffen, dass er natürlich schlau singt. Wenn notwendig, den Fluchtweg in Richtung Piano nimmt, um Schwächen zu kaschieren. Jüngere Kollegen gehen da gerne All-in, nehmen das Risiko, aber scheitern an anderen Ecken.

Gegen Kaufmann verblassen noch viele

Michael Fabiano, eine „Hoffnung“, wenn man 40-Jährige so bezeichnen kann. Hat als Calaf gerade einen Joker verspielt. Gesund, kräftig, es gab immer wieder mal ein paar Momente, wo seine Strahlkraft aufblitzen konnte, wo man sich gedacht hat: Na bitte, es geht ja doch. Direkt nach dem „Nessun dorma“ sogar, das keine Jubelstürme verdient hat. Woran Michael Fabiano da gescheitert ist, genauso wie einige seiner Generation generell. Freddie De Tommaso, 31, sei hier erwähnt. An der Gestaltung, an der durchdringenden Erweckung einer Partie zum Leben. An einer Emotionalität, die einen auf die Knie zwingt.

Operngesang, Arien vor allem, leben von der Spannung, vom viel zitierten „Legato“. Das ist wie bei einer Ziehharmonika. Arienauftakt: Bügel weg, Quetschen auseinander, Luft in den Blasbalg und los geht’s. Die Ausnahmeerscheinungen schaffen dann eines: Egal, welche Tonlage, egal, welche Emotion, die Luft bleibt bis zum Ende der Arie im Blasbalg. Piotr Beczała ist ein Meister dieser Gesangskunst. Damit hatte Fabiano ansatzweise sogar dienen können.

Tenöre sind nicht nur Akrobaten

Einen Streich hat dem US-Amerikaner etwas anderes gespielt: der Versuch, die Arie speziell zu gestalten. Übermäßiges Vibrato, fast schon zitternd, dazu plötzlich die fehlende Kraft, die Silben schön zu formen, zu gestalten, und zum Ende war auch noch die Luft raus. So hochkarätige Juwelen zum Funkeln zu bringen, ist eben eine Kunst.

Das schafft Jonas Kaufmann an guten Tagen noch immer. Nicht, weil er in den Höhen glänzt. Diese Zeiten sind vorbei. Sondern weil er andere Aspekte einer Rolle aufgreift, sie verinnerlicht, baritonal färbt, und auf einem leiseren Tablett in warmen Farben präsentiert. Den Satz, „ein Tenor wird vor allem für die hohen Töne bezahlt“ (Herausgeber Andreas Schmidt), möchte ich somit nicht unterschreiben. Wenn es alleine daran läge, würden De Tommaso und Fabiano dagegen nicht so verblassen.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 12. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Pietro Mascagni, Cavalleria Rusticana / Ruggero Leoncavallo, Pagliacci, Wiener Staatsoper, 11. März 2019

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20 Gedanken zu „Pathys Stehplatz 56: Wer füllt die Lücke?
klassik-begeistert.de, 12. Jänner 2025“

  1. Vor so viel geballtem Fachwissen muss man einfach kapitulieren! Vielleicht hätte man aber den heutigen Canio abwarten sollen, bevor man über Kaufmanns aktuelle Form spekuliert.

    Peter Sommeregger

  2. Ein paar Fakten: Canios berühmte Arie enthält kein „hohes B“, sondern geht nur bis „a“. Wer es hat, der kann kurz vorm Glockenchor mit einem hohen h brillieren. Muss aber nicht sein, Atlantov und Vickers verzichteten darauf. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Tenören, die rein stimmlich deutlich über den Möglichkeiten von Kaufmann liegen. Da muss einem um die vokale Zukunft nicht bange sein.

    Carl Bechers

      1. Moin moin, Frau Becker,

        schön, mal wieder von Ihnen zu lesen.
        Mit Verlaub verwundert es mich nicht, dass Sie diese Tenöre nicht kennen.

        Herzlich

        Andreas Schmidt, Herausgeber

        1. Was bringt Sie zu dieser flapsigen Bemerkung?
          Ich „kenne“ fast alle derzeit über die Bühne schreitenden Tenöre, wenn auch meist nur über Medien.
          Trotz alledem wäre die Nennung der Gemeinten angebracht.
          Hochachtungsvoll
          DI W.Becker, gelegentliche Leserin

          PS: meinen Post mit dem sehr interessanten Artikel zu dem von Ihnen aufgeworfenen „Problem Arena di Verona-Publikum“ haben Sie wohl übersehen…

  3. Es mag sein, dass durch die hohe Wiener Stimmung der Spitzenton in „Vesti la giubba“ fast wie ein hohes B klingt, notiert ist jedenfalls ein A. Aber was stören schon solche Details, wenn man über die Leistung eines Sängers spekuliert, ehe er sie erbracht hat.

    K. Brock

  4. Lieber Peter Sommeregger,

    bei Kaufmann gibt es IMMER ein hohes Risiko! In 4 von 5 Fällen geht’s in die Hose. Das eine Mal, wo er liefert, wird’s dafür ein Highlight. Als Canio dürfte diese Wahrscheinlichkeit bis aufs Maximum ausgereizt werden. Das Risiko nehme ich in Kauf.

    Bei De Tommaso & Co habe ich bislang noch kein Highlight erlebt. Ich sehe schwarz, was die Nachfolge von Kaufmann, Beczała & Co betrifft. Ebenso bei den Ladies, wenn Netrebko, Nylund & Co sich zurückziehen.

    Jürgen Pathy

  5. Bin nur neurigig, ob mein absolutes Gehör versagt hätte. Ich kann mich an zwei Hs in der Partie des Canio erinnern (z.B. „a ventitré ore“) aber an kein B in „Vesti la giubba“, sondern „nur“ ein A. Das übrigens Kaufmann gestern sehr gut getroffen hat, wie auch die beiden Hs. Seine Probleme liegen nicht in der Höhe, die noch gut vorhanden ist (als Calaf in der Premierenserie lieferte er jedes Mal das Des in „ardente d’amor“) und auch nicht in der Rollengestaltung, wenn, wie richtig angemerkt, er sich nicht übernimmt. An dieser Stelle sei angemerkt, man hätte vielleicht von einem recht frisch kurierten Kammersänger die Bereitschaft erwartet, für den erkrankten Tetelmann die Rolle des Turiddu zu übernehmen…

    Porphyrio Petrovich

    1. Von „recht frisch“ kuriertem Kammersänger würde ich nach 3 Jahren nicht mehr sprechen.
      Turiddu: soviel ich weiss, war die Bereitschaft da, doch ein Einspringer war rasch gefunden. Wir werden sehen/hören, wann und ob Tetelman wieder auftreten kann und ob die Forderung des PP noch greift… Wenn ja, dann bitte am 19., da bin ich in der Vostellung 😉

      Waltraud Becker

  6. Wer füllt die Lücke? Vittorio Grigolo!

    Sein Canio in Hamburg war ebenso sensationell wie sein Cavaradossi in Berlin. Selbst meine gegenüber lauten Tenören meistens mindestens sehr skeptische Begleitung meinte nur „laut, aber gut!“

    Johannes Fischer

    1. Ha, Grigolo – ja, volle Zustimmung! „Ein Schreihals“, meinen einige. „Die pure EGO-Show“, bemängeln andere. Das Publikum reagiert gemischt. Meinen Zuspruch hat er. Definitiv ein Grund, um eine Vorstellung zu besuchen!

      47 ist er halt. Dürften noch fünf bis zehn fette Jahre bleiben.

      Danke für deinen Input Johannes!

      Liebe Grüße
      Jürgen

    2. Ich bin absolut kein Grigolo-Fan. Aber es stimmt, sein Canio in Hamburg war sensationell. Vor allem seine Darstellung hat so dermaßen beeindruckt, dass mir eiskalte Schauer den Rücken hinuntergelaufen sind. Ansonsten kann ich aber mit seiner überzogenen Art und auch mit seiner Stimme nicht viel anfangen.
      Kaufmann ist immer noch der Tenor der Stunde!

      Irene

  7. Wer füllt die Lücke?

    Ich setze einige Hoffnungen in Freddie De Tommaso. Im vergangenen Jahr konnte ich ihn auf einem Recital mit Lise Davidsen zu Ostern in Salzburg hören, da war er so phänomenal gut, dass er mich an Giuseppe Di Stefano erinnerte und der stark tremolierenden Davidsen die Show stahl.
    Ich hoffe, er hält sich!

    Kirsten Liese

    1. Liebe Kirsten,

      spannend. Mit beiden Stimmen, die du erwähnst, habe ich zu kämpfen. Lise Davidsen erweckt Fluchtreflexe. Das ist schrecklich laut, was sie abzieht. Schmerzhaft bisweilen, dazu eine Hülle über der Stimme, die mir nicht wohlgesonnen ist. Sieglinde und Brünnhilde, irgendwann Isolde. Dann aber in Deckung: am besten 50 Meter Entfernung, sonst erschlägt einen der Druck.

      Freddie De Tommaso erreicht mich nicht! Kein Funken der Emotion, alles leere Noten. Ohne Tiefgang. aufpoliert, sauber, kräftig. Das ist mir zu wenig.

      Danke für deinen Input. Meinungen sind konträr. Sie unterliegen subjektiven Empfindungen.

      Liebe Grüße
      Jürgen

      1. Lieber Jürgen,

        in Bezug auf Lise Davidsen sind wir uns völlig einig, mich hatte diese wuchtige Stimme auch schier erschlagen – noch dazu in dem Kleinen Haus für Mozart.
        De Tommaso war weiland einfach sehr berührend mit seinem schmelzreichen Belcanto-Gesang als Cavaradossi in Tosca. Aber das war zugegebenermaßen nur ein Eindruck.
        Seit diesem Konzert habe ich ihn nicht mehr gehört. Die jeweilige Disposition an einem Abend ist durchaus entscheidend. Habe es schon erlebt, dass ein und dieselbe Sängerin in zwei aufeinander folgenden Aufführungen gänzlich unterschiedlich war, an einem Abend grandios, am anderen mäßig. Insofern bin ich sehr gespannt darauf, wie De Tommaso auf mich wirken wird, wenn ich ihn wieder mal höre.

        Liebe Grüße, Kirsten

      2. Lieber Jürgen,

        Lise Davidsen wird im März 2026 Isolde und 2027-30 Brünnhilde singen, im September ’26 auch noch Lady Macbeth (Verdi), steht auf ihrer Website. Alles natürlich an der Met.

        Brünnhilde kann ich mir sehr gut vorstellen, das könnte passen. Bei ihr spürt man Wotans Speer stimmlich ja schon in ihrer Elisabeth…

        Johannes Fischer

    2. Auf keinen Fall De Tommaso! Verdi kann der gar nicht. Und dann diese übertriebenen gesanglichen Gebaren. Hauptsache laut, lauter, am lautesten, so wie fast alle neuen Tenöre, die glauben, dass Stimmkraft Emotion und Ausdruck ersetzen kann. Absolut falsch.

      Es muss erstmal einer kommen, der Kaufmann das Wasser reicht. Wenn es einen gibt, dann Brian Jagde. Der war in der Scala neben Netrebko stimmlich sensationell. Und der kann Verdi interpretieren. Sein Otello wird sicherlich gut.

      Irene

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