Yannick Nézet-Séguin © George Etheredge
Der Mythos Wiener Philharmoniker lebt. Wie unnahbar und mächtig ist dieses Orchester eigentlich, das seit fast 200 Jahren die Stadt Wien prägt, für manche wie ein Geheimbund. Ein Gespräch mit Michael Bladerer, CEO und Kontrabassist, gewährt seltene Einblicke.
von Jürgen Pathy
Nach dem Neujahrskonzert ist vor dem Neujahrskonzert. 2026 dirigiert Yannick Nézet-Séguin. Das ist bekannt, bereits seit Januar 2025. Denn: Kaum ist der letzte Ton verklungen, läuft die PR-Maschinerie – und die Medien stürzen sich bereits auf das nächste Jahr. Dass man intern bereits drei Jahre im Voraus weiß, wer es dirigiert, überrascht dennoch. Die einzigen, die dieses wohlbehütete Geheimnis kennen, sind drei Personen: der Dirigent selbst, Bladerer als CEO und Daniel Froschauer, der Vorstand der Wiener Philharmoniker.
Ich sitze in der Kanzlei der Wiener Philharmoniker, als dieser zur Tür hereinstürzt. „Ich muss mich umziehen“, roter Kopf, Alltagsstress. In 30 Minuten steht das Abo-Konzert am Programm. Tugan Sokhiev dirigiert. Nach über 2 Stunden Gespräch wirkt CEO Bladerer hingegen noch immer entspannt. „Ich muss erst in der zweiten Hälfte spielen“.
Der Sonderstatus des Geschäftsführers
Beim Neujahrskonzert ist Bladerer natürlich von Anfang an dabei. Als Einziger bei jedem der im Vorfeld ausverkauften Cash-Cow der Wiener Philharmoniker. „Bis zu 55 Millionen Zuschauer verfolgen das Neujahrskonzert jedes Jahr.“ Rund 2.000 im Saal, Tickets gibt es nur per Verlosung, der Rest vor den TV-Schirmen und Streams. Damit der Rest des Orchesters nicht zu kurz kommt, gibt es eine interne Regel: „Wir schauen, dass jeder der 148 Musiker zumindest jedes zweite Jahr dabei ist.“
Ehre und Bürde für jeden Dirigenten
Für Dirigenten sei das Neujahrskonzert eine ziemliche Herausforderung: „Jeder sagt, es ist das schwerste Konzert.“ Nicht nur wegen des Drucks, „die haben alle Karajan und Kleiber im Nacken“. Viele Zuschauer im Publikum hätten da eine gewisse Vorstellung vom Klang. Auch der vielen Taktwechsel wegen; ständig ein neuer Auftakt. Rund 20 verschiedene Werke stehen in der Partitur. Diese wird extra für das Neujahrskonzert gedruckt. Eine Ausgabe, soweit Bladerer weiß. „Die bekommt der Dirigent geschenkt.“
Nicht die einzige Ehre, die diesem zuteil wird. Wer das Neujahrskonzert dirigiert, hat es geschafft. Als Sprungbrett darf es keiner nutzen. Bei der Wahl der Dirigenten gibt man sehr wohl acht, wie die Karriere eines Dirigenten bislang verlaufen ist. In der Vita müssen große Stationen stehen. Ansonsten gibt es kaum eine Chance, um am Pult der Wiener Philharmoniker zu stehen – schon gar nicht beim Neujahrskonzert. Generell plant man für die Zukunft. „Rund 10 Dirigenten gibt es für die Abokonzerte.“ Heute müsse er noch am Programm für 2028 arbeiten. Da will man die Katze nicht im Sack kaufen, habe ich so das Gefühl. Man plant mit Dirigenten, mit denen man langfristig den Weg gehen möchte.
Die erste Frau beim Neujahrskonzert?
Auf die erste Frau beim Neujahrskonzert wird man noch warten müssen. Das gibt Bladerer nicht direkt bekannt. Man muss zwischen den Zeilen lesen, wenn man dem 57-jährigen Niederösterreicher zuhört. Ganz lässt er sich nicht in die Karten blicken. Nur so viel: Die Entscheidung träfe man immer nach Maßstäben der Qualität. Marketing und Verkaufsorientierung sei bei der Wahl der Dirigenten komplett irrelevant. Innovativ müsse man ebenso wenig sein, denn der Erfolg gibt dem berühmtesten Orchester der Welt recht. „Die Wartezeit auf ein Abo sind 12 Jahre.“
Bei Riccardo Muti kommt Bladerer dennoch ins Schwärmen. Die Eleganz und die Anmut, die er alleine optisch beim Dirigieren ausstrahle, sei etwas ganz Besonderes. Sieben Mal hat der Neapolitaner bereits das Neujahrskonzert dirigiert.

Yannick Nézet-Séguin gibt 2026 sein Debüt
Der Kanadier Yannick Nézet-Séguin ist 2026 das erste Mal dran. Der Weg dahin war ein langer. Vom Retter in der Not – als man 2022 auf US-Tournee plötzlich ohne Dirigenten dastand, sprang Nézet-Séguin über Nacht ein. Dem Russen Valery Gergiev musste man absagen. Am Tag zuvor war Russland in die Ukraine eingefallen. Über das Sommernachtskonzert 2023 in Schönbrunn – so etwas wie ein Testlauf. „Es war ein großer Triumphzug“, strahlt Bladerer. Bis man dann die Entscheidung getroffen habe, dass Nézet-Séguin das Neujahrskonzert dirigieren dürfe.
Denn: Auch wenn Bladerer es selten direkt sagt, man ist sich der Stellung des Orchesters schon bewusst. „Es ist eine große Ehre, die man einem Dirigenten gibt.“ Bei den Wiener Philharmonikern läuft es nämlich anders: Während andere Orchester durch große Dirigenten gemacht werden, machen erst die Wiener Philharmoniker große Dirigenten zu Stars.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 5. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Pathys Stehplatz 60: Die Wiener Philharmoniker, Teil I klassik-begeistert.de, 28. September 2025
Wiener Philharmoniker, Yannick Nézet-Séguin Salzburger Festspiele, 24. August 2025
Wiener Philharmoniker, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent Wiener Konzerthaus, 19. März 2025