Philharmonisches Konzert im Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie
Es ist eines der härteren Schnittke-Stücke und gleich zu Beginn des ersten Satzes ließ Kremer seine Violine flehen, winseln, im Tremolo und Flageolett gequält klagen. Als würde ein verängstigtes Kind verzweifelt um Schutz bitten, zwang der begnadete Geiger die Töne manchmal bis zum schmerzhaften Kratzen an die Grenze des schönen Lauts und ließ sie sich mitunter überschlagen.
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, 19. September 2021
Foto: Elbphilharmonie Hamburg © Elbphilharmonie Hamburg
Alfred Schnittke, Konzert Nr. 3 für Violine und Kammerorchester Franz Schubert, Streichquartett d-Moll D 810 „Der Tod und das Mädchen“ in der Bearbeitung für Streichorchester von Gustav Mahler
Leitung: Kent Nagano
Violine: Gidon Kremer
Rezitation: Martina Gedeck
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
von Dr. Andreas Ströbl
„Viel Spaß“ wünschten die freundlichen Damen vor den Saaltüren auch am 19. September dem Publikum, das in den großen Saal der Elbphilharmonie strömte. Das war lieb gemeint, aber spaßig war das Programm tatsächlich nicht. Es ging um existentielle Grenzerfahrungen und deren hochemotionaler Wiedergabe in ergreifender Musik. Die kammermusikalischen Werke zweier ausgesprochen unterschiedlicher Komponisten erweiterten die Hamburger intelligent und feinfühlig mit Texten, die in direktem Bezug zum zweiten Teil des Konzerts standen.
Mit gespannter Ehrfurcht erwartete man Gidon Kremers Interpretation des 3. Violinkonzerts von Alfred Schnittke. In der Tat hat der Komponist dem Solisten in der Partitur einige Freiheiten gelassen und Kremer lotete aus, was an Schmerz in dem nur in wenigen Passagen leicht zugänglichen Werk darstellbar ist. Es ist eines der härteren Schnittke-Stücke und gleich zu Beginn des ersten Satzes ließ Kremer seine Violine flehen, winseln, im Tremolo und Flageolett gequält klagen. Als würde ein verängstigtes Kind verzweifelt um Schutz bitten, zwang der begnadete Geiger die Töne manchmal bis zum schmerzhaften Kratzen an die Grenze des schönen Lauts und ließ sie sich mitunter überschlagen. Dissonanzen der Violine wurden durch solche der Bläser verstärkt und in drohende Antworten mit Fugen-Anklängen verwandelt. Kremer beugte und wand sich, als würde er vor seinem eigenen Spiel in die Knie gehen müssen. Der Satz klang beruhigter aus und weckte eine leise Erinnerung an das „Es ist genug“-Zitat aus Alban Bergs Violinkonzert. Ebenso wie in diesem Werk ist hier nichts lustig, weil der bittere Ernst in und zwischen den Noten sitzt.
Im zweiten Satz schien die verstörte Stimme der Violine immer wieder zu stottern, als würde sie, in die Enge gedrängt, ihr Gegenüber um Verständnis bitten. Harte Intervallsprünge des Orchesters wirkten wie die Ablehnung jedes harmonischen Miteinanders, in der Dynamik immer wieder gebrochen. Die Instrumentengruppen vermittelten das Bild von Menschen, die durcheinanderreden und sich nicht verstehen wollen, bis zu einer – typisch für Schnittke – plötzlichen lyrischen Aufklärung, wie der Blick in ein romantisches Bild aus besseren Zeiten. Die Suche nach Versöhnung und innerem Gleichklang wurde aber immer aufs Neue gebrochen oder verschliert, als läge ein unangenehmer Ölfilm auf der feinen Textur des melancholischen Landschaftsbildes. Pizzicati steigerten die quälende Spannung und am Ende verblieb der verletzten Seele einsames Lied mit einem kleinen Rest von Hoffnung.
Nach dem letzten Takt hätte man in der „Elphi“ eine Akupunkturnadel fallen hören können, bis sich die Begeisterung für die virtuose Leistung eines Weltmusikers, der nie die Demut und Bescheidenheit vor der Musik verlor, in brandendem Applaus Luft machte.
Zu Beginn des zweiten Teils und nach dem ersten Satz von Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ las Martina Gedeck ausgewählte Texte aus Briefen Schuberts, das Heine-Gedicht „Der Doppelgänger“ und das namengebende Gedicht von Matthias Claudius, in dem der Tod kein schreckliches Gerippe ist, sondern ein tröstender Begleiter in eine andere Welt. Die Schauspielerin verstand es, unterstützt von wenigen, aber empfindsam unterstreichenden Gesten, das Seeleninnere von Schubert sichtbar zu machen und diejenigen Worte zwischen die ersten beiden Sätze zu flechten, die so untrennbar zu dem Streichquartett gehören.
Gustav Mahler hat diese kleine Besetzung deutlich erweitert. Kennern des Hamburger Musiklebens war die zweite Bezugnahme des Konzerts klar, denn sowohl Schnittke als auch Mahler hatten eine Zeitlang in Hamburg gelebt. Mahlers sensible Bearbeitung, die erst in den früher 80er Jahren von seiner Tochter Anna wiederentdeckt wurde, macht die Zerrissenheit Schuberts in den Empfindungen von Liebe und Schmerz fast noch plastischer als das Original. Zu Unrecht vergessen…
Gemahnte Schnittkes Violinkonzert an die Erinnerung an die quälenden Umstände einer mit Verwundungen überstandenen Krisenzeit, so klang aus dem ja viel älteren „Der Tod und das Mädchen“ vielmehr ein „Jetzt!“ und ein Blick in die Zukunft, auch wenn diese bereits im Jenseits liegt.
Naganos Tod ist forsch, er tritt entschlossen ein, ohne anzuklopfen; er ist leicht und schnell wie der Herbstwind, zugleich stark und bestimmend, ja männlich-verführend. Selten hat man das Stück so dynamisch, ja tänzerisch gehört, aber es ist kein Totentanz, kein Danse macabre mit klappernden Knochen. Tänzerisch-engagiert ist auch Naganos Dirigat, in ständiger Bewegung, dabei klaren Akzentsetzungen. Der rhythmisch-leidenschaftliche Duktus mit sattem Klang wechselt im zweiten Satz zu einem regelrechten Gesang der Streicher: Dieser Tod droht nicht mit skelettierten Fingern, sondern legt als ruhige Majestät seine feste Hand auf das Haupt des Mädchens und schließt ihm sanft die Augen. Das malen die zarten Cello-Pizzicati und eine Leichtigkeit fließt aus den Variationen, in denen sich die erste Geige wie eine Lerche in die Höhe schraubt.
All dies geschieht so mühelos und die Wechsel vom immer wieder aufklingenden Dur in das dominante Moll wirken wohl wehmütig, aber nie depressiv. Und auf die Tränen folgt stets ein Trost, gemäß dem von Martina Gedeck so feinnervig vorgetragenen Text. Im dritten Satz spannt Gevatter Tod seinen Wagen an, der Rückblick auf ein zu kurzes Leben changiert vom schwelgerischen Klagen zum rhythmisch gestrafften Aufbruch aus der irdischen Existenz. In seiner Entschiedenheit folgt der abschließende Satz der Vorbereitung auf die letzte Reise, das in den ewigen Schlaf gewiegte Mädchen ruht schon in der schwarzen Kutsche. Mit kurzen Pausen, aber stringent und immer wieder hochenergisch eilt der große Gleichmacher dahin; bei dem beachtlichen Tempo weichen die Musiker aber niemals von ihrer Exaktheit ab.
Das packende Finale beendet die rasante Fahrt und was übrigbleibt, ist eher der Eindruck des Lebendigen als des Toten. Es ist ein Übergang in einen anderen Zustand in der Hoffnung auf das, was den physischen Abschied übersteht.
Langanhaltender und herzlicher Beifall würdigte ein großartiges Konzert.
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