Uta Weyand und der Steinway von Schloss Fasanerie, Foto: © André Druschel
Trotz der Pandemie – die Welt wird sich weiter drehen. Davon ist Pianistin Uta Weyand überzeugt. Weshalb die gebürtige Reutlingerin, die vor kurzem ihre CD „1892 – Reflections“ veröffentlicht hat, Darwins Evolutionstheorie ins Spiel bringt, und was das Geheimnis großer Musiker ist, erzählt Sie im Gespräch mit Klassik-begeistert.
Interview: Jürgen Pathy
Klassik-begeistert: Grüß Gott Frau Weyand. Sie haben eine CD aufgenommen, die das Jahr 1892 in den Mittelpunkt rückt. Was waren Ihre genauen Beweggründe, um dieses Album aufzunehmen?
Uta Weyand: Ein Schloss und ein Klavier aus dem Jahr 1892. Genauer gesagt, das „Schloss Fasanerie“ und ein Steinway-Flügel, der dort steht. Seit 15 Jahren lebe ich in der Nähe des herrlichen Barockschlosses, das unweit von Fulda liegt. Die berühmte Landgräfin Anna von Preußen, die sehr musikalisch und mit Brahms und Clara Schumann befreundet war, residierte dort bis 1918. Ihr Sohn Alexander Landgraf von Hessen teilte diese Liebe zur Musik. Er brachte einen im Jahr 1892 produzierten Steinway-Flügel ins Schloss und komponierte sogar. Vor einigen Jahren spielte ich ein Benefizkonzert, um die Restaurierung dieses schönen Steinway Flügels zu unterstützen. Sein Klang und seine Persönlichkeit haben mich fasziniert.
Auf diesem Flügel haben Sie auch die CD eingespielt?
Ja, genau. Und da habe ich mich gefragt: Wer hat 1892 welche Musik geschrieben? Aber auch, was geschah allgemein im Jahr 1892, und wie fühlte und dachte die Welt in jenem Jahr? Später war ich absolut überwältigt von der faszinierenden Vielfalt der Fakten und Geschichten. Es war so inspirierend, die Ereignisse und Umstände von nur einem Jahr zu betrachten, dass in mir Spiegelbilder einer Zeit entstanden: reflections!
Womit wir beim Titel Ihrer CD wären: „1892 – Reflections“. Darauf sind Stücke von Brahms, Debussy, Grieg und Albéniz zu hören. Gibt es einen Komponisten oder ein Werk, zu dem Sie sich besonders hingezogen fühlen?
Es fällt mir schwer, mich auf dieser CD auf einen „Liebling“ festzulegen. Mich fasziniert die Zusammenstellung und die Gleichzeitigkeit von so unterschiedlichen Stilen. Es sind vier Komponisten, die auf dieser CD vertreten sind. Alle befinden sich in völlig unterschiedlichen Lebensphasen.
Debussy ist 30 und konzentriert sich, nach einer gescheiterten Pianistenkarriere, erst dann auf das Komponieren. Sein Nocturne „1892“ ist somit zwar kein Jugendwerk, aber eben ein junges Werk. Albéniz, der nur 2 Jahre älter ist als Debussy, war wiederum ein Ausnahmepianist und versuchte sich zunächst an kleinen, sehr folkloristisch geprägten Kompositionen. Im Gegensatz dazu steht ein reifes Werk von Brahms, der mit 59 schon fast am Ende seines Lebens angekommen ist. Edvard Grieg wiederum ist 49 und schreibt sein op. 57 in seinem Haus in Troldhaugen, wo bis heute sein Steinway Flügel steht: auch ein Exemplar aus dem Jahr 1892!
Sie spielen auf Ihrer CD auch weniger bekannte Stücke von Grieg. Gefühlt werden im Konzertsaal immer dieselben Werke gespielt. Selbst Albéniz, der doch bekannt ist, wird selten gespielt. Was braucht es, damit im Konzert auch eine größere Vielfalt geboten wird?
Die Frage ist ja, was wir als Künstler und Interpreten unserem Publikum mit auf den Weg geben wollen. Und da gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Ob man als eine Art Spezialist für eine Epoche oder eines Komponisten gelten will oder zum Beispiel als Geschichtenerzähler. Im Studium beschäftigt man sich fast ausschließlich damit, alles spielen zu können! Programme zu entwickeln, die für einen selbst anspruchsvoll und für das Publikum spannend und verständlich genug sind, ist allerdings eine weitaus umfassendere Aufgabe. Es ist eine der schönsten, anstrengendsten, aufregendsten und kreativsten Herausforderungen unseres künstlerischen Daseins. Und diese Aufgabe hat eben nicht nur mit einem selbst zu tun, sondern möchte das Publikum mit ins Boot holen.
Mit jedem neuen Programm wird etwas Neues geboren. Ich denke, für die meisten Künstler ist das Leben auf der Bühne zu hektisch, um ständig etwas Spannendes, Neues bieten zu können. Ich sehe aber auch, dass viele Orchester doch lieber Standardklavierkonzerte aufführen als zum Beispiel ein Klavierkonzert von Albéniz, Montsalvatge oder Guridi. Das ist wirklich schade. Aber man darf nicht aufgeben und muss immer wieder anklopfen.
Apropos anklopfen. Jeder kann aus einem Klavier einen Ton entlocken. Was macht allerdings den Unterschied zwischen einem Amateur und einem großen Musiker?
Jede Partitur ist ohne Interpret ein Blatt Papier mit vielen schwarzen Punkten. Sie erwacht erst durch uns zum Leben. Zunächst schafft das auch ein Amateur. Denn für den Amateur ist es eine Kunst, diese Noten in Form eines Musikstückes wiedergeben zu können.
Der große Musiker hingegen vergisst sie und lässt die Musik sprechen. Er kümmert sich nicht mehr um das Wie. Der große Musiker ist wie ein Sprachrohr. Er sitzt zwischen Komponist und Instrument und zaubert Kommunikation. Vielmehr als Töne, gibt er die Zwischentöne wieder. Erst dann hören wir das Gesamtkunstwerk eines Musikstückes und vergessen Raum und Zeit.
Manchmal lese ich, dass dieses oder jenes Stück sehr „männlich“ gespielt wurde? Können Sie damit etwas anfangen?
Vor vielen Jahren spielte mir ein Studienkollege die 5. Sonate von Skrjabin vor und wollte meine Meinung dazu erfahren. Ich vergesse nie, dass ich ihm riet, „mehr Glas“ in den Klang zu mischen. Er versuchte es erneut, woraufhin ich ihn mit den Worten unterbrach: „Ich meinte nicht männliches, sondern weibliches Glas!“ Das klingt doch sehr skurril, finden Sie nicht?
Doch. Was heißt es also, „männlich“ oder „weiblich“ zu spielen?
Ob etwas männlich oder weiblich klingt, ist eine höchst subtile Angelegenheit. Ich denke, mancher Zuhörer interpretiert „männlich und weiblich“ als eine Art Charakter. Dabei sind es Nuancen, die beide in jedem von uns vertreten sind und auf unterschiedlichste Weise zum Vorschein kommen.
Sie sind nicht nur als Solistin aktiv, sondern unterrichten und sind auch Jurymitglied bei internationalen Klavierwettbewerben. Die Meinungen zu Wettbewerben sind kontrovers. Was können Musiker von Wettbewerben mitnehmen?
Das Wichtigste für junge Musiker ist es, nicht zu vergessen, dass die Teilnahme an Wettbewerben nur ein Bestandteil von vielen unterschiedlichen Erfahrungen auf der Bühne ist. Bei Wettbewerben ist vor allem der Weg das Ziel. Die Vorbereitung, sowohl körperlich als auch mental, schafft eine enorme innere Kraft. Sie steigert das Konzentrationsvermögen und stellt einen vor eine außergewöhnliche Belastbarkeitsprobe. Wenn der Fokus auf der Vorbereitungszeit liegt, ist niemand ein Verlierer.
Außerdem tragen Wettbewerbe auch viel zur Selbstwahrnehmung bei. Man kann vielen Gleichgesinnten aus der ganzen Welt zuhören, Freundschaften schließen, Gedanken austauschen.
Man kann es aber auch übertreiben?
Natürlich. Leider erfahre ich nicht selten, dass die Teilnahme an Wettbewerben inzwischen zu einer Art Sport geworden ist. Wer alle Wettbewerbe „abklappert“, verliert wertvolle Zeit. Gerade in jungen Jahren muss man diese für ein breites Repertoire, ein hohes Allgemein– und Hintergrundwissen und die Persönlichkeitsfindung nutzen.
Sie haben in Deutschland, den USA und in Spanien studiert. Was sind die Unterschiede? Was konnten Sie aus den unterschiedlichen Ländern mitnehmen, wovon Sie als Pianistin oder Mensch heute profitieren?
Bis heute empfinde ich es als ein großes Privileg, in drei so unterschiedlichen Ländern studiert und gelebt zu haben. Dennoch muss ich zugeben, dass nie das Land der Grund meiner Reise war, sondern viel mehr der Wunsch, bei wem ich studieren wollte. Meine Lehrer haben mich wiederum in weitere Länder getragen. Denn in Freiburg bei Elza Kolodin lernte ich Polen und bei Vitaly Margulis natürlich Russland kennen und verstehen. So als wäre ich, durch das Verstehen der Musik dieser Länder, persönlich dort gewesen. Bei Leon Fleisher in Baltimore erfuhr ich unglaublich viel über deutsche Musik. Joaquín Soriano in Madrid wiederum brachte mir nicht nur die spanische Klavierliteratur nahe, sondern, als Enkelschüler von Ravel, lehrte er mich, auch das französische Repertoire zu lieben.
An so verschiedenen Orten leben zu können, hat mich also sehr geprägt und die Überlieferung von so vielseitigem Wissen stets beflügelt. Dadurch bin ich heute als Musikerin täglich auf Dauerweltreise, ohne dabei mein Zuhause verlassen zu müssen.
Sie haben nun einige große Namen genannt. Gibt es in ihrem Leben eine Person, die Sie besonders beeinflusst hat?
Ich hatte das Glück, dass mir an bedeutenden Wegkreuzungen immer wegweisende Menschen begegnet sind. Ob mich nur eine Person beeinflusst hat, kann ich daher nicht sagen. Es sind tatsächlich viele gewesen. Zunächst hat mir das Vertrauen meiner Eltern die größte Kraft gegeben, meine Leidenschaft zum Beruf machen zu können. Mein Schulrektor, der mich nach der 10. Klasse für ein Jahr beurlaubte, damit ich ausprobieren konnte, ob das Musikstudium etwas für mich wäre, hat mich Großzügigkeit und Mut gelehrt. Geprägt haben mich alle meine Lehrerinnen und Lehrer, ohne die ich heute nicht der Mensch wäre, der ich bin.
Und ja, natürlich gibt es einen großen Moment, der mehr mit dem Leben an sich zu tun hatte als mit der Musik: ein späteres Treffen mit meinem Lehrer Leon Fleisher. Als ich schon in Madrid studierte und keine Vision mehr hatte, wo ich danach hingehen sollte, riet er mir einfach, zu bleiben. Ein einfacher Rat, der für mich von großer Bedeutung war. Denn Madrid war der erste Ort, an welchem ich als Musikerin selbständig zu leben begann.
Lassen Sie uns kurz Corona ansprechen. Wie sehen Sie die aktuelle Situation? Hat sie nur Nachteile oder kann man ihr vielleicht etwas Positives abgewinnen?
Die Nachteile der Pandemie lassen sich nicht leugnen. Für uns Künstler geht es vor allem um eins: um den Wert der Kultur! Kultur ist wichtig für das Miteinander, und Kultur lässt sich aus unserem Leben nicht einfach wegdefinieren. Darum ist es gerade in komplizierten Zeiten so wichtig, Kultur miteinander zu leben, zu erfahren und zu ermöglichen. Musik ist zusätzlich etwas sehr Emotionales. Sie berührt uns mehr denn je in schwierigen Zeiten. Wenn der Kulturbetrieb still liegt, gibt es kaum noch ein Miteinander. Vielleicht wird vielen erst durch dieses große Loch bewusst, in welcher einsamen Leere wir uns ohne Kommunikation, Inspiration und Begegnung befinden.
Dennoch geht mir ein Satz nicht aus dem Kopf: „Survival of the Fittest“. Ich empfinde dieses „Überleben der Anpassungsfähigsten“ als etwas sehr Wahres und Bedenkenswertes. Wer im Kulturleben schon einen festen Platz hat, muss sich genauso weiterentwickeln und anpassen können, wie jemand, der am Beginn seiner Karriere steht und diese vielleicht den Umständen entsprechend ganz anders gestaltet.
Jeder Auftritt ist und bleibt ein Geschenk! Schließlich möchte man sich nicht nur als Musiker im eigenen Wohnzimmer wahrnehmen, sondern etwas übermitteln, was Publikum wie Interpret gleichermaßen beflügelt: Musik! Wer diese Perspektive vor Augen hat, wird sie auch weiterhin verfolgen und Wege finden – auch aus dieser Pandemie. Denken wir nur an den Film „Der Pianist“ oder die Autobiographie von Alice Herz-Sommer. Unter herzzerreißenden Bedingungen, gar unmöglichen Überlebenschancen, gibt es doch eine innere Kraft. Sie liegt in guten Zeiten nur verborgen in uns. Jetzt zeigt sich, ob man sie hat.
Eine letzte Frage: Angenommen, es erscheint eine gute Fee. Diese erfüllt Ihnen drei Wünsche. Welche wären das?
Darf ich diese Wünsche in drei Worte umwandeln: Es geht weiter!
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 13. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at