Ein begeisternder Abend in Berlin. Jonathan Nott und die Berliner Philharmoniker brillieren beim Musikfest und beweisen: Zeitgenössische Musik kann auch zugänglich sein!
Berlin, Philharmonie, 7. September 2024
Philharmonie Berlin © Schirmer
Missy Mazzoli (*1980) – Orpheus Undone für Orchester
Peter Eötvös (1944-2024) – Cziffra Psodia für Klavier und Orchester
Charles Ives (1874-1954) – Sinfonie Nr. 4 für Chor und Orchester
Pierre-Laurent Aimard, Klavier
Berliner Philharmoniker
Ernst Senff Chor
Jonathan Nott, Dirigent
Steffen Schubert, Choreinstudierung
Gregor A. Mayrhofer, Co-Dirigent (Ives)
von Brian Cooper, Bonn
Wann haben Sie zuletzt einen Konzertsaal betreten und sogleich im Eingangsbereich die Komponistin, deren Werk am selben Abend auf dem Programm stand, erspäht? Nicht als Büste, sondern leibhaftig? Missy Mazzoli wartete offenbar still vor sich hin auf jemanden, und nach der Aufführung ihres Werks Orpheus Undone, erstmals von den Berliner Philharmonikern gespielt, war man sich im stürmischen Applaus einig: Das Warten hat sich gelohnt. Sie wurde völlig zu Recht gefeiert.
Denn die 43jährige Komponistin hat kostbares Material aus ihrer Oper Orpheus Alive auf eine Viertelstunde destilliert. Eine Sekunde lang war ich im falschen Film, hatte ich doch zwei Tage zuvor Short Ride in a Fast Machine von John Adams gehört, denn auch Mazzolis Werk beginnt mit ähnlich insistierenden Schlägen auf einen Holzblock. Es ist ein überragend komponiertes und gespieltes Werk, das alle Möglichkeiten eines mittelgroß besetzten Orchesters ausschöpft. Gegen Ende gibt es irisierende Klänge mit Harfe, Streichern und Klavier, wie eines dieser Kinderspielzeuge: die Puppe, die sich zu Spielmusik dreht…
Überhaupt ist allen drei Werken des Abends, in denen Jonathan Nott mit präziser Schlagtechnik die Berliner Philharmoniker souverän dirigierte, gemein, dass sie fabelhaft orchestriert sind und das kompositorische Handwerkszeug meisterlich beherrschen.
Auch das Klavierkonzert von Peter Eötvös, mit dem schönen Wortspiel Cziffra Psodia betitelt, war eine Erstaufführung bei den Berliner Philharmonikern. Leider verstarb der Ungar in diesem Jahr, wie auch Wolfgang Rihm. Ursprünglich sollte Eötvös sein eigenes Werk dirigieren, was ja immer eine spannende Sache ist, wenn man beispielsweise an den oben erwähnten John Adams denkt, der vor acht Jahren einen ganzen Abend mit eigenen Werken gestaltete, darunter ein damals neues Violinkonzert mit Leila Josefowicz. Auch solche Höhepunkte machen das Berliner Musikfest aus. Die beiden Aufführungen in diesem September waren also dem Andenken an Peter Eötvös gewidmet.
György Cziffras Leben war nicht nur von großen Erfolgen gekrönt, sondern auch voller Tragödien. Er wurde unter Stalin Zwangsarbeiter im Steinbruch; zudem zog er sich nach dem Unfalltod seines Sohnes aus dem Konzertleben zurück. Eötvös’ Mutter hatte bei Cziffra studiert. Und in der Cziffra Psodia, rhapsodisch und frei, brillierte der Solist Pierre-Laurent Aimard, unter dessen Händen „ein rhapsodisches, dramatisches Leben“ (Eötvös) meisterlich erklang. Aimard singt förmlich in jedem Akkord, in jedem Ton, die Läufe sind rasant, es gibt Liszt-Zitate, und das Cimbalom erzeugt virtuose ungarische Klänge.
Als „visionäre Collage aus Hymnen, Märschen und Fugen, die grundlegende Fragen des Seins thematisiert“ wird die avantgardistisch anmutende 4. Sinfonie des Versicherungskaufmanns Charles Ives (150. Geburtstag) in der Ankündigung bei der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker beschrieben. Vor allem die Collage ist das passende Stichwort. Trotz aller Komplexität dieser riesenhaft besetzten halbstündigen Sinfonie (zwei Dirigenten!) hört man immer wieder diese charakteristischen Ives-Momente: Hymnen, tunes, dazu die typische Musik der marching bands. Der Ernst Senff Chor beeindruckte dabei.
Eugène Goossens, der 1927 die ersten beiden Sätze aufführte (Ives hat die Sinfonie zu Lebzeiten nicht vollständig gehört), sagte zur Aufführung: „Ich schlug stellenweise die Zwei mit dem Taktstock, die Drei mit der Linken, die Fünf mit dem Kopf und noch etwas mit den Frackschößen.“
Klingt kompliziert? Ja, ist es auch, aber zugleich ist diese vermeintliche Kakophonie durchaus zugänglich, wie die Musik des ganzen Abends. Wieder spielte Pierre-Laurent Aimard den Klavierpart – eine Meisterleistung nach dem so erschöpfenden Klavierkonzert von Eötvös. Besonders hymnisch geht es im ersten Satz zu; der zweite, eine quietschfidele Sause, trägt die Satzbezeichnung Comedy, und angesichts des hörbaren Schmunzelns im Publikum kann man feststellen: Ziel erreicht.
Im dritten Satz intonieren die Streicher eine Fuge, das Posaunensolo begeistert, es ist ein C-Dur-Wohlklang, bevor der letzte Satz mit seinem aleatorischen Schlagwerk an den Mittelsatz von Bartóks Konzert für Orchester gemahnt. Büschn Turandot am Ende, büschn das Ende der Vierten von Schostakowitsch. Und Janne Saksalas Solo am Kontrabass ist beeindruckend.
Das Musikfest-Publikum erweist sich Jahr für Jahr als aufgeschlossen, interessiert, neugierig, offen für Neues. Sekundenlange Stille nach allen Werken, die doch so zugänglich sind, viele junge Leute sind im Publikum. Man hält einander beim Hineingehen die Tür auf und sagt danke, wenn jemand für einen beim Einnehmen des Platzes aufsteht. Von Anzug bis T-Shirt ist alles vertreten, man lauscht aufmerksam, und genau darum geht es.
Es ist eine beeindruckende Erfahrung, sich immer mal wieder abseits der abgetretenen Pfade mit neuen Klängen die Ohren durchzupusten.
Warum zum Teufel läuft in meinem Kopf am Folgetag im Berliner Hauptbahnhof die Vierte von Bruckner? Zuhause wird mir klar: Die Aufführung der Vierten mit dem Rotterdams Philharmonisch Orkest am 2. September 2018 gehört zu den denkwürdigsten in den 20 Jahren, die ich das Musikfest mindestens einmal jährlich besuche – seit aus den Berliner Festwochen das „Musikfest“ wurde. Dasselbe kann man über diesen denkwürdigen Abend mit Jonathan Nott sagen, der übrigens am kommenden Sonntag in Köln zu erleben ist.
Dr. Brian Cooper, 8. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at