Foto: © Julia Wessely
Wiener Konzerthaus, 28. Mai 2019
Pierre-Laurent Aimard, Pianist
Johann Sebastian Bach, Goldberg-Variationen
von Jürgen Pathy
„Wer die enorm schweren Goldberg-Variationen spielen kann, mit seinen oftmals vertrackten Passagen, bei denen die Hände überkreuzt werden, der kann sie gar nicht schlecht spielen“, lautete einst das Resümee des verstorbenen Kritikerpapstes Joachim Kaiser. Von Bach noch schlicht und einfach als „Clavier-Übung“ notiert, den Liebhabern zur „Gemüths-Ergötzung“ dienend, liefert der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard, 61, im Mozart Saal des Wiener Konzerthauses die Bestätigung dieser These.
Aimard, der für viele noch immer als Spezialist der zeitgenössischen Musik gehandelt wird, meistert diesen symmetrisch aufgebauten Variationszyklus zwar nicht mit der noblen Eleganz und perlenden Leichtigkeit eines András Schiff, nicht mit den teils halsbrecherischen Tempi eines Glenn Gould, aber mit einer Intensität, Intimität und Mystik, die besonders bei den langsamen Variationen zum Vorschein treten.
Dort, in der musikalischen Interpretation und Ausdruckskraft liegen die großen Stärken des mit dem Ernst Siemens Preis – dem „Nobelpreis der Musik“ – ausgezeichneten Tüftlers und optisch absolut unprätentiös wirkenden Musikers.
Verblüffend ist vor allem, wie der in Lyon geborene „Anti-Star“ sich im Laufe der immer schwieriger werdenden Variationen kontinuierlich steigern kann und sich immer sicherer entlang der absturzgefährdeten Felsen dieses Achttausenders der Klavierliteratur zu bewegen vermag.
Sind zu Beginn noch einige Unsicherheiten zu vernehmen, besonders in den Variationen die von hoher Virtuosität geprägt sind, verblüfft Aimard vor allem ab der zweiten Hälfte dieses monumentalen Variationenzyklus, den er mit einer kurzen Generalpause einläutet.
Mit teils lauten Brumm-Geräuschen im Stile eines Glenn Gould und Grimassen schneidend spielt sich der optisch unscheinbar wirkende Herr in schwarzer Kleidung fortwährend in eine Art Trancezustand und offenbart, weshalb er von Nikolaus Harnoncourt als „eine Mischung aus interpretatorischem Genie und Wahnsinn“ bezeichnet wurde:
Die hochvirtuosen Schlussvariationen mit teils rasanten Sechzehnteln im 12/16-Takt fließen wie aus einem Guss, die in ihrem Intervall immer weiter auseinanderklaffenden Kanons klingen stimmig. Variation Nr. 25 mit ihrer entrückten Musiksprache, die teils an den späten Beethoven erinnert, verzaubert und benebelt. Die Fingerakrobatik der Variation Nr. 28 sitzt.
Und schließlich mündet dieses Werk wie es begonnen hatte in der kunstvoll verzierten Aria, die Aimard dieses Mal noch zärtlicher und wehmütiger mit einer ungemein kultivierten Anschlagskunst in den Saal entschweben lässt.
Mit dieser Interpretation beweist Pierre-Laurent Aimard, der sich des tosenden Applauses nicht verwehren kann und einige Male zurück aufs Podium gelockt wird, dass er den Spagat zwischen zeitgenössischer und alter Musik, zwischen Stockhausen, Ligeti und Boulez auf der einen Seite, und Beethoven und Bach auf der anderen, imstande ist zu meistern.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 29. Mai 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at