Was ist los mit dem Tenor Torsten Kerl?

Pique Dame, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky
Hamburgische Staatsoper, 19. Oktober 2016

Der Vater war zufrieden. Zwei „Bravo“-Rufe für den Tenor Torsten Kerl kamen nach der Aufführung von „Pique Dame“ (Pikowaja Dama) an der Hamburgischen Staatsoper von Manfred Kerl, 76. Der saß am Mittwoch mit seiner Ehefrau Karin, 75, in Reihe 1, Platz 6 und 7, rechts. „Wir reisen Torsten so oft es geht nach, um ihn zu hören“, sagte der Gelsenkirchener. „Auch sonst hören wir uns sehr viele Premieren an den Häusern in Gelsenkirchen, Dortmund und Essen an.“

Aufgrund „technischer Probleme“ in der Pause war die wunderbare Oper des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowsky 20 Minuten später zu Ende gegangen. Der Applaus des Hamburger Publikums war kurz und höflich gewesen. Und Manfred Kerl bedachte den Dirigenten Gregor Bühl mit einem leisen Buh-Ruf, weil ihm die Blechbläser zu laut gespielt und den Gesang seines Sohnes stellenweise übertönt hatten.

Dass die überwiegend jungen Blechbläser des Philharmonischen Staatsorchesters, vor allem die Posaunen, an diesem Abend in weiten Stellen viel zu laut – und immer wieder auch falsch – spielten, war leider eines der unerfreulichen Hörerlebnisse dieser 25. Vorstellung seit der Premiere am 25. Mai 2003. Der Dirigent Gregor Bühl, der insgesamt sehr zurückhaltend und nicht besonders energiegeladen dirigierte, hätte den Posaunen deutlich Einhalt gebieten müssen – das gehört zu seiner Aufgabenbeschreibung. Dass Orchester, Chor und auch Solisten immer wieder nicht auf Schlag agierten, besonders schlecht beim Maskenball im zweiten Akt, zeugt nicht von besonders sorgfältiger Probenarbeit.

Ja, und der Hauptprotagonist, Herman, gesungen von Torsten Kerl, der um die Liebe der verlobten Lisa, gesungen von Barbara Haveman, kämpft? Seine Darbietung an diesem Abend war nur als mitteldurchwachsen zu bezeichnen – und schloss sich damit nahtlos an die mitteldurchwachsenen Darbietungen an der Hamburgischen Staatsoper als Enée in der Hector-Berlioz-Oper „Les Troyens“ im September 2015, an seine Paraderolle Paul in „Die tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold im November und Dezember 2015 am selben Ort und den Rienzi in Richard Wagners gleichnamiger Oper im Februar 2016 an der Deutschen Oper Berlin an.

Torsten Kerl sang an diesem Abend einfach alles andere als entspannt, als leicht, als souverän. In der Höhe hatte er oft merkliche Probleme, es kam zu einem deutlichen Aussetzer im zweiten Akt und zu vielen zu tief angesungenen Tönen. In weiten Passagen agierte der mit Frau und Tochter in Essen lebende Tenor sehr leise, vor allem im Duett mit der hervorragend aufgelegten Sopranistin Barbara Haveman als Lisa (so heißt auch Torsten Kerls Tochter). Nein: schön hört sich wirklich anders an.

Torsten Kerl, so der Eindruck, ist einfach „übersungen“; zumindest ist er seit eineinhalb Jahren nicht mehr ganz frisch in der Stimme. Dass er herausragend singen kann, hat er in der Vergangenheit immer wieder bewiesen – und auch bei wenigen Passagen im forte ließ er sein Können an diesem Abend aufblitzen. Aber wer ihn etwa bei YouTube als Paul in der berühmten Korngold-Arie „Glück das mir verblieb“ (Die tote Stadt) hört, der wird einen unglaublichen Unterschied in puncto Gefühl, Hingabe, Leichtigkeit und Strahlkraft feststellen.

In guten Zeiten ist Torsten Kerls Stimme warm und voluminös; besonders tragfähig war sie nie und immer schon etwas angestrengt in den Höhen – was allerdings für die meisten Wagner-Tenöre gilt, die Tristan und Siegfried singen. Aber Torsten Kerl hat ein sehr spezielles, immer wieder erkennbares Timbre – eine der Voraussetzungen für einen wirklich guten Sänger. Noch vor zwei Jahren hat er den Tannhäuser in Richard Wagners gleichnamiger Oper bei den Bayreuther Festspielen zum Besten gegeben und überwiegend positive Kritiken bekommen.

Die Lichtgestalt an diesem Abend war die niederländische Sopranistin Barbara Haveman als Lisa. Sie hat in diesem Jahr schon die Elisabetta im „Don Carlos“ (Giuseppe Verdi) an der Sächsischen Staatsoper in Dresden und die Minnie in „La Fanciulla del West“ (Giacomo Puccini) im Teatro alla Scala in Mailand dargeboten. Gegenüber ihrem klaren, sehr voluminösen Sopran verblassten die anderen Stimmen.

So richtig auf Russisch zu singen vermochte natürlich der russische Bariton Vladimir Baykov als Graf Tomsky, der Freund Hermans. Das Ensemblemitglied hat eine sehr angenehme, füllige Tiefe – offenbarte aber im höheren Register einige Schwächen und Unsauberkeiten. Er hat in diesem Jahr den Wotan („Die Walküre“, Richard Wagner) bei den Tiroler Festspielen Erl dargeboten und tritt im kommenden Jahr als Holländer im „Fliegenden Holländer“ (Wagner) am Theater Magdeburg auf.

Umgekehrt verhielt es sich bei dem in der usbekischen Hauptstadt Taschkent geborenen Ensemblemitglied Alexey Bogdanchikov als Fürst Jeletzky: Im höheren Register sang er formidabel und tragfähig, im tieferen Register noch ein wenig dünn. Auch bei ihm als „native speaker“ hörte man wohltuend die schöne Aussprache richtigen Russischs.

Die Inszenierung von Willy Decker ist sehr, sehr dunkel gehalten. Vornehmlich werden den ganzen Abend über nur schwarze Wände hin- und hergeschoben. Ansonsten tauchen ein Spieltisch und ein großes Bild der Gräfin in Jugendjahren auf. Auch die Kostüme von Wolfgang Gussmann passen sich mit ihren dunklen Farben dem Bühnenbild an.

Zur Handlung: Der Außenseiter Herman liebt Lisa, die mit dem Fürsten Jeletzky verlobt ist. Herman ist leidenschaftlicher Spieler: Er will alles daran setzen, zu Geld und Ansehen zu kommen, um Lisa zu gewinnen. Als er erfährt, dass ihre Großmutter das Geheimnis dreier Karten kennt, mit denen man immer gewinnt, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Herman verliert schließlich im entscheidenden Spiel mit einer Pique Dame und bringt sich um, nachdem Lisa sich aus Verzweiflung in den Fluss gestürzt hat.

Das Libretto schrieb der Bruder des Komponisten, Modest Tschaikowsky, nach der gleichnamigen Erzählung von Alexander Puschkin. Uraufführung war, nach gregorianischem Kalender, Silvester 1890 im Mariinsky-Theater in St. Petersburg. Dort wird das Stück noch immer gespielt: in einer traditionellen und einer modernen Version.

Weitere Aufführungen: Freitag, 21. Oktober (19.30 Uhr),
und Freitag, 28. Oktober (19.00 Uhr).

Andreas Schmidt, 20. Oktober 2016
klassik-begeistert.de

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