Alan Gilbert © Peter Hundert
Aber nun gilt es Alan Gilbert persönlich ins Rampenlicht zu stellen, er, der mit jedwedem Pianisten kann, und nun versuche ich, drei der vergangenen Konzerte ins rechte Licht zu rücken, drei strahlende Konzerte geradezu, denn eines überglänzt das andere.
NDR Elbphilharmonie Orchester
Dirigent Alan Gilbert
Daniil Trifonov, Klavier, 4. Oktober 2024
Yefim Bronfman, Klavier, 10. Oktober 2024 und 11. Oktober 2024
Elbphilharmonie, Hamburg
von Harald Nicolas Stazol
Fiebern, heute heißt es fiebern, entgegenfiebern, diesem Yanim Bronfman, denn wenn der heute Beethoven 3 gibt… – so gilt es, sich mit vor Aufregung schweißigen Händen an den spärlichen Metallgeländern emporzuziehen, schnell und immer schneller die Stufen hinauf – doch halt! Warum ist das Foyer denn so leer? Kein Mensch da? Ich schon zu spät? Und mit einem Blick auf die sinnigerweise von Rolex gespendeten Wanduhren über unserem kecken Barpersonal sehe ich, dass es erst 18.55 Uhr ist – und ich vor lauter begeisterter Vorfreude eine volle Stunde zu früh angerast bin!
Aber nun rast die Zeit! Noch schnell mal in Rach 3 von Bronfman reingehört, wieder gedacht, besser als Emil Gilels, wie lange denn noch, erst 19.20 Uhr? und nach unendlichen Minuten des Wartens nun doch zur Ebene 12, diesmal die Aufzüge hinauf, und zu meinem äußersten Entzücken nehme ich die Güte der Direktion zur Kenntnis, freie Sicht auf die Hände des Meisters zu haben, und die Triller förmlich im Entstehen, Aufleben, Sich-Halten und wieder Auflösen sehen, aber hier halten wir ein, und bedienen uns eines literarischen Tricks: wie der Beethoven war, wird die Peripetie dieses Essays, drum nun als retardierendes Moment – „Ist er denn der Beste? Von denen Sie gehört haben?“ Argerich, Hamelin, Ushida, denke ich… „Vielleicht nicht der Beste. Nicht kategorisch. Aber heute Abend? DER BESTE DER GANZEN WELT!!!“
„Comme la Concorde“ rufe ich dem Pedell des Lycée Français d’Hambourg Antoine de Saint-Exupéry zu, man weiß hier, dass ich immer am Vorabend in der Philharmonie ward, und ich beschreibe so die beiden Rolls-Royce Nachbrennerdüsen, nur für Düsenjäger gedacht, oder eben gerade für die Elphi, die mein NDR Elbphilharmonieorchester da im Vierten Satz der Vierten von Tchaikovsky an den Tag legt, Pardauz, Brimborium, Posaunen – und unser Paukist, der Konzertmeister Stefan Cürlis, graumeliert und im besten Alter, nun, bei Pjotr Iljitsch gibt es allerhand zu tun, und so kann ich mein Glas von dem Schlegel-Virtuosen kaum abwenden, außer, um Gilbert wieder lach-strahlend den gewaltigen Takt vorgeben zu sehen, wie dieser immer wieder aufschäumend-ungestüme Tschaikowsky es verlangt – und wehe, wenn sie losgelassen, denn so geht es doch schon los!
Es sind die Fanfaren des Schicksals, laut, wie die Posaunen von Jericho, und nun kann man beim Meister nachlesen:
„Bevor ich Ihnen begegnete,“ schrieb Peter Tschaikowsky im November 1877 aus dem schweizerischen Kurort Clarens am Genfer See an seine Mäzenin Nadeschda von Meck, „wusste ich nicht, dass es Menschen mit einem so liebevollen und tiefen Gemüt gibt. Nicht nur, was Sie für mich tun, grenzt ans Wunderbare. Ihr Brief drückt so viel Wärme und Freundschaft aus, dass ich das Leben wieder liebe und fest entschlossen bin, aller Unbill zu widerstehen. Ihnen verdanke ich es, dass die Liebe zur Arbeit mit verdoppelter Kraft wiederkehrt… und ich werde unsere Sinfonie spätestens im Dezember beenden.“ Und dann werden die Melodien endlos…
Der dritte Satz, dieses kaum zu bewältigende Pizzicato, es wird als kaum spielbar bezeichnet eines gesamten Streichorchesters, schwungvoll, liebevoll, heiter – da mag er sich noch einmal aufwerfen, positiv und lebensfroh, jener, der gerade der Hölle einer Ehe entgeht.
Und dies nur zur Vierten… ich kann zu Bernstein und den New Yorkern nur wenig Luft nach oben hören.
Aber nun gilt es Alan Gilbert persönlich ins Rampenlicht zu stellen, er, der mit jedwedem Pianisten kann, und nun versuche ich, drei der vergangenen Konzerte ins rechte Licht zu rücken, drei strahlende Konzerte geradezu, denn eines überglänzt das andere.
Wenn Ravel auf dem Programm steht, sein zauberfeines Klavierkonzert G-Dur, mit Daniil Trifonov zudem, ja, da ist der erste Satz schon, und noch geht er noch, und noch, und dann geht er plötzlich nicht mehr… wenn man ein Konzert in G-Dur geben will, und die G-Seite kaputt ist, gerissen, perdu, unwiederbringlich, dann hat man ein Problem.
Und, im Falle dieses Flügels allein der Größe nach: Ein gewaltiges. Ein etwa drei Meter langes.
Gilbert ruft es ins tiefe Rund des Saales uns allen zu, „G-Dur“, da ist Trifonov schon längst zugange, wie ein Automechaniker, schon kommt Hilfe von der rechten Saite, pardon, Seite, und plötzlich in der ausgestreckten Hand des Pianisten sieht man sie, gülden gleißend, wie eine Fliegenfischangel: Die Saite G.
Die E-Saiten der Violinen, eben nicht stahlumwickelter Darm wie bei Eudoxa heute, sondern nur Darmsaiten, rissen so häufig, dass die Virtuosen nicht nur Schmisse im Gesicht hatten, sondern den ganzen Part auch auf der A-Seite draufhatten. Wie das ging? Keine Ahnung.
Jetzt aber „the salient point“, der springende Punkt, das mirabilis, hat Daniil den ganzen, fulminanten 1. Satz mal ohne Geschwindigkeitsübergrenzung, mal mit Tempo 30, vorher voll in die Eisen…: Hat er ohne G-Saite gespielt? Oder sie einfach vor Hingabe zerhämmert. Dabei KEINE REGUNG IN SEINEM GESICHT! Im dunkelgrünen Kulaken Hemd führt er sich, nein, führt er uns alle vor, und führt uns allen vor, was Ravel mit diesem Konzert geschaffen und beabsichtigt hat. Was, das mag jeder für sich entscheiden. Gilbert nur: „Wir fangen nochmal von vorne an.“ Einer ächzt, ihm sei verziehen.
Ich sprach schon des Öfteren von Alan Gilbert, und meist in schierem Staunen. Gerade noch, es mag keine zwei Wochen her sein, brilliert er mit Antoine Tamestit. (https://klassik-begeistert.de/ndr-elbphilharmonie-orchester-antoine-tamestit-viola-dirigent-alan-gilbert-elbphilharmonie-22-september-2024/)
Und in einer ungeahnten Geschmeidigkeit des NDR Elbphilharmonie Orchesters, nun, IHNEN macht keiner was vor. Wer deren „La Mer“ gehört hat am 3. Oktober 2024, und nicht meiner Meinung ist, der möge sich gerne zum Duell melden, jeden Sonntag um 10 Uhr an der Moorweide. Tageszeitungen bevorzugt.
Während Alan, mein Alan, mal anpeitscht, mal im Zaume hält, mal befeuert, mal nachgibt, und in mir dies alles seit Celibidache und Gardiner oder Orff mit mehr erinnerlicher harmonischer Achtsamkeit, ich kann nur hoffen, jemand von den 2100 anderen begreift es noch. Schon für mich tut sich da ein ganzes Universum auf. Und die Fixsterne sind sein Orchester. Das muss man erstmal hinlegen, hinzaubern, hin zwirbeln können.
Yefim Bronfman. Da zerpflügt-zerpflückt ein Hurricane der Kategorie 5 mein herzallerliebstes Florida – nun, solches kann man in der Elbphilharmonie heute Abend haben.
Denn nach diesem Beethoven steht nichts mehr.
Nichts mehr.
Harald Nicolas Stazol, 17. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at