Leon Gurvitch; Foto Henriette Mielke
Auf den Spuren eines ganz besonderen Künstlers
von Patrik Klein
Leon Gurvitch begegnete mir zum ersten Mal im Sommer 2020 während der Pandemie bei einem Terrassenkonzert des befreundeten Musikers Christian Seibold aus dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Weil alle Kunst und Kultur zum Erliegen kam, aber man draußen an der freien Luft zusammenkommen konnte, traf man sich vor seinem Haus und lauschte über Garten und Terrasse hinweg den musikalischen Darbietungen von Freunden und Bekannten aus der Hamburger Musikszene. An diesem besagten Abend gab es Jazz mit Klavier, Klarinette und Kontrabass. An die 50 Nachbarn und informierte Gäste ließen sich mit coronabedingten Abständen bei herrlichem Wetter von der Musik anziehen.
Zufällig las ich Leon Gurvitchs Namen dann später, als Konzerte wieder stattfinden konnten, auf der Ankündigung einer Lesung des bekannten Schriftstellers Sebastian Fitzek, der in der Elbphilharmonie Hamburg seinen neuesten Roman vorstellte.
Sebastian Fitzek kombinierte in seiner Soundtrack-Lesetour Literatur mit Musik. An diesem Abend wurde der Bestsellerautor begleitet von diesem Ausnahmemusiker, Komponist und Freund Leon Gurvitch, der den Soundtrack für Fitzek komponierte. Die beiden hatten sich auf einer Kreuzfahrt kennengelernt und diese Zusammenarbeit beschlossen. Ein insgesamt fünfköpfiges Klangwunder entstand, das mit verschiedenen eleganten Streichinstrumenten zusammen mit Flügel eine einzigartige neue Klangwelt erschuf.
Eine weitere Begegnung im Herbst 2021 folgte im Hamburger Bechsteinzentrum in der Innenstadt. Mit der Sopranistin Stella Motina und der Geigenvirtuosin Ksenia Dubrowskaja erklangen klassische Lieder und Werke begleitet von Leon Gurvitch am Klavier.
Im Dezember des vergangenen Jahres erlebte ich Leon Gurvitch erneut. Diesmal in der kleinen Elbphilharmonie Hamburg mit dem Programm „I Got Rhythm“ mit Werken von Johann Sebastian Bach, Gabriel Fauré, Erik Satie, Dmitri Schostakowitsch, Dave Brubeck, George Gershwin und ihm selbst. Ein starkes Konzert mit aufregender Musik voller Leidenschaft und Emotion blieb in meinem Gedächtnis haften.
Über Facebook vertiefte sich der Kontakt zu Leon und vor wenigen Monaten bekamen meine Frau und ich eine Einladung zu einem seiner Salonkonzerte in Neu Wulmstorf bei Hamburg. Zu Gast war an diesem Abend der furiose Saxophonist, Klarinettist, Querflötist und Musikprofessor an der Musikhochschule Hamburg, Fiete Felsch. Überwältigt von der Qualität und der wunderbaren Atmosphäre des Salonkonzertes hatte ich dann daraufhin einen kurzen Artikel bei meinem Klassikblog „Klassik-begeistert“ geschrieben: Musiksalon bei Irina und Leon Gurvitch klassik-begeistert.de – Klassik begeistert
Ein paar Tage später bekam ich auf der Autofahrt von Itzehoe nach Hamburg einen freundlichen Anruf von Leon, der mich über seine Pläne, die Aufnahme seiner neuesten CD informierte und mich bat, zu dieser Neuerscheinung die Liner Notes zu schreiben. Fast sprachlos und sehr berührt, sagte ich zu, ohne eigentlich so richtig zu wissen, was da auf mich zukommt. Das roch nach Spannung pur. Und neugierig wie ich bin, entwickelt sich seit diesem Anruf ein Herzensprojekt über diese geplante neue CD und die Zusammenarbeit mit dem Musiker.
Bestückt mit der Pre-Master CD machte ich mich ans Werk, traf mich mit Leon, um ein wenig mehr über den Mensch und seine Arbeit zu erfahren und entwarf erste „Liner Notes“.
Wenn Klaviermusik aus dem Körper, dem tiefsten Inneren, dem Herzen und der Seele nach außen fließt, strömend in perfekter Harmonie und im Einklang mit sich selbst, sich ihren Weg wie aus einem Guss in die aufmerksamen Ohren des Zuhörers bahnt, dann sitzt der Komponist und Pianist Leon Gurvitch an seinem achtundachtzig Tasten umfassenden Instrument und fesselt jede und jeden, nimmt einen mit in den Sog seiner Gedanken, Erlebnisse und Emotionen. Tiefe Traurigkeit, feinste Empfindsamkeit und pure Lebensfreude sind in Schwingungen und Klängen ausgedrückt.
Seine neueste CD mit Kompositionen von ausschließlich eigenen Werken steht unmittelbar bevor. In regelmäßig stattfindenden Hauskonzerten in seinem perfekt eingerichteten Wohnzimmer mit edlem Flügel stellt er dem gebannt lauschenden Publikum immer wieder herausragende Werke seines Schaffens vor. Alleine oder mit Partnermusikern erklingt dann feinste Musik.
Seine Kompositionen nehmen mit in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Künstlers, der nicht einfach Noten vom Blatt oder auswendig spielt, sondern der die Musik in sich trägt in jeder Faser seines Leibs, in jeder feinsten Regung im Gesicht, in seinen Augen und seiner gesamten Ausstrahlung. Die Musik ist lebendig, oft gegensätzlich und voller Kontraste. Sie kann stürmisch sein, sich aufbäumen und schreien, aber auch beruhigen, zu Tränen rühren und nachdenklich stimmen.
Seine technisch höchst anspruchsvolle Musik lässt sich keinem Genre eindeutig zuordnen, denn sie hat ihre Verweise aus der Klassik, aus russischer Folklore, aus lateinamerikanischer, ja sogar orientalischer Musik und natürlich aus dem Jazz. Sie ist gewiss keine Hintergrundmusik, denn sie erfordert ein genaues Hinhören und Hineindenken. Seine Kompositionen entstehen direkt am Flügel in einer Art Meditation, mit Papier und Bleistift in einem kreativen Prozess mit viel Intuition und Erfahrungen bei Konzerten mit Publikum. Wie ein Maler skizziert er immer feiner werdend seine Werke bis zum letzten Tüpfelchen in einer Winzigkeit. Diese kleinen Änderungen, Verbesserungen oder Anpassungen kommen oft noch viele Monate später dazu. Bis schließlich ein Grad der Zufriedenheit mit dem Stück entstanden ist und es präsentiert werden kann.
Der sieben Stücke beinhaltende Zyklus Musique Mélancolique, der zentraler Bestandteil dieser geplanten CD ist, entstand während der Pandemie, als das kulturelle Leben stillstand und die Verzweiflung bei vielen Künstlern wuchs. Mit seiner Lieblingszahl sieben begründet Leon Gurvitch auch die Anzahl der Stücke, die trotz der düsteren Aussichten Lebensfreude und Hoffnung ausstrahlen.
Dabei entwickeln sich oft aus ruhigen oder klassisch anmutenden Klängen mit Arpeggios und kleinen Dissonanzen durchwachsene, zum Teil furiose Melodien voller Farben, Stimmungen und Emotionen. Technisch äußerst anspruchsvoll beginnen Funken in allen Farben zu sprühen wie bei einem grandiosen Feuerwerk. Tempoverlangsamungen oder plötzliche Stille setzen Kontraste, die bei jedem Zuhörer individuelle Emotionen erzeugen und zu Herzen gehen. Trotz der dunklen und nachdenklichen Gesamtstimmung mündet der Zyklus in mediterraner Lebensfreude, Verspieltheit und jazzigen Improvisationen.
Bei den folgenden vier Stücken, die mit Songs without tears bezeichnet sind, ließ sich der Komponist von Mendelssohn und Skrjabin inspirieren. In vier verschiedenen Stimmungen ohne Worte und ohne Tränen werden musikalisch spannungsgeladene Kontraste gesetzt. Langsamkeit und höchstes Tempo, „faustsches“ Philosophieren und komplex verschachtelte Melodieflächen, sowie beruhigende Elemente und schließlich optimistisch verspielten Sequenzen, der die Sonne wieder scheinen lässt, prägen die Aufnahmen.
Vocalise erinnert ein wenig an Rachmanninows gesangloses, lediglich einen Vokal beinhaltendes Lied Nr. 14 Op. 34. Die dunkel bis heiter anmutende Melodie erfährt viele Variationen und wohltuende Harmonien. Sie kommt daher als farbenfrohe Malerei, in der die Gedanken dorthin fliegen, wo es paradiesisch sein muss.
Bei Silentium – piano melody erzählt Leon Gurvitch von Krieg und Frieden. Größer können Kontraste nicht sein. Traurigkeit, aber auch Hoffnung, Schatten und Licht, Resignation und Widerstand prägen die berührende Melodieentwicklung, die in Glaube an Zuversicht und die Liebe mündet.
Schließlich geht es im letzten Stück Post Scriptum um den Tod eines geliebten Menschen, seinen Onkel Leonid Heifetz, der ein brillanter Theaterregisseur gewesen ist. In leicht dunklen Farben drücken sich Trauer über den Verlust und Zweifel, aber auch Nachdenklichkeit und Freude über das Dagewesene aus.
Am kommenden Wochenende wird die Musik zu seiner geplanten CD in seinem nächsten Salonkonzert fast komplett vor Publikum stattfinden. Zudem erwartet man einen Überraschungsgast und weitere spannende Werke.
Ich bin schon sehr gespannt und freue mich auf aufregende Stunden und die Weiterentwicklung unserer Zusammenarbeit.
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„Jede Note geht mir durch Herz und Kopf“ – Der Komponist und Pianist Leon Gurvitch
In Schubladen lässt sich Leon Gurvitch schwerlich stecken. Er ist Komponist, Pianist und Dirigent, liebt Schostakowitsch und Strawinsky ebenso wie Keith Jarrett und Astor Piazzolla, spielt Jazz, Klezmer, Filmmusik und Kunstlied. All diese Impulse fließen in seine kreative Arbeit ein.
Bereits mit 19 Jahren gründete er sein erstes Ensemble. 2001 als Oscar-Produzent Menachem Golan aus Hollywood seinen neuen Film „Death Game“ in Belarus drehte suchte er dazu passende Film-Musik. Leon hat innerhalb von 3 Tagen die Film-Musik komponiert und aufgenommen.
In seinen Studienzeiten begleitete er Stummfilme von Ernst Lubitsch, arbeitete eng mit dem Goethe-Institut zusammen, schrieb damals zahlreiche Arrangements.
Wegen der schwierigen politischen Lage musste Leon Gurvitch Belarus verlassen und kam 2001 als Flüchtling nach Deutschland. Sein neues Leben begann in Hamburg.
„Deutschland hat mich als Musikland immer fasziniert“, sagt Gurvitch, „hier wollte ich weitere Erfahrungen sammeln“. Viel Zeit verbrachte er auch in den USA, wohin er 2017 für ein Klavierrecital in der ehrwürdigen Carnegie Hall zurückkehrte. Gurvitch setzte auf Risiko, spielte Gershwin und eigene Werke – und eroberte sein Publikum in einem ausverkauften Saal.
Heute gehört Leon Gurvitch zur neuen Generation von Komponisten, die auch Performer sind: („composer-performers“). Sein Werkkatalog umfasst mittlerweile mehr als 400 Kompositionen. Der renommierte Verlag Boosey & Hawkes veröffentlicht seine Werke, die das Magazin PianoNews als „wirklich gelungen“ bezeichnete.
Leon Gurvitch wurde beim HANS – HAMBURGER MUSIKPREIS 2015 in der Kategorie „Musiker des Jahres“ nominiert. 2016 – war er „Artist-in-Residence“ beim David Oppenheim Music Center/Stella Adler Studio of Acting, New York City. 2018 wurde er mit „Global Music Awards“ (USA) für Solo Piano CD „Poetic Whispers“ ausgezeichnet. 2019 fand Benefiz-Konzert „Leon Gurvitch & Friends“ zugunsten von UNICEF in der Berliner Philharmonie statt.
2019 ging er auf Tournee mit Bestseller-Autor Sebastian Fitzek, wofür er den Soundtrack zu seinem Buch „Das Geschenk“ (das meistverkaufte Buch des Jahres 2019 in Deutschland) komponiert hat und vor insgesamt 60000 Zuschauern mit seinem Ensemble gespielt hat.
2011 dirigierte er die Deutsche Uraufführung von Philip Glass’ Tanz-Oper „Les Enfants Terribles“.
Werke von Leon Gurvitch wurden im „Kennedy Center for Performing Arts“ in Washington, in der Carnegie Hall in New York, Berliner Philharmonie, im Brüsseler Palais des Beaux-Arts, in der Hamburger Laeiszhalle, Elbphilharmonie und in der Pariser Cité des Arts uraufgeführt. Von 2004 bis 2017 unterrichtete er als Dozent am Hamburger Johannes-Brahms-Konservatorium.
Auch das Genre der Filmmusik hat er sich erobert: Für „Noah Land“ (Regie: Cenk Ertürk, Premiere bei Tribeca Film Festival, New York), eine deutsch-türkisch-amerikanische Produktion, steuerte er den orchestralen Soundtrack und ein CD-Album bei, der als Best Film Score im September 2019 von The Film Scorer bezeichnet wurde und 2021 mit Global Music Awards in der Kategorie Soundtrack Film/Television mit Silver Medal Winner for Outstanding Achievement ausgezeichnet wurde.
2021 erschien sein Soundtrack zu dem Doku-Film „Non-Citizens“.
Und noch ein neues Genre kommt hinzu. Denn am Theater Magdeburg waren in 2019 Ausschnitte aus seinen „5 Dances in Old Style“ für Orchester vertanzt im Ballett „Dracula“ von Gonzalo Galguera.
Er arbeitete u.a. für die Hamburgische Staatsoper, zusammen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, Opernhaus Magdeburg, Klassik Philharmonie Hamburg, Kammerphilharmonie Frankfurt, Belarussian Chamber Orchestra, Orquesta Filármonica Juvenil del Café (Kolumbien) sowie mit der Theater-Legende Peter Zadek. Auftragswerke und Arrangements schrieb er für Verbier Festival und für Grammy-Gewinner Joshua Bell für Warner Classics.
In Leipzig debütierte er 2021 mit einem Konzert, als Komponist und Pianist mit Special Guest Opern-Star Nadja Michael im Gewandhaus. Es folgte sein Elbphilharmonie Solo Piano Konzert und die Filmmusik zum Dokumentationsfilm „Stravinsky & Diagilev“. In 2022 wurde er der erste Preisträger des 34. Internationalen Siegburger Kompositionswettbewerbs für Heine Lieder „Träumereien“ und fertigte das Opern-Auftragswerk für die legendäre Theatergruppe „La Fura dels Baus“ (Barcelona) in der Regie von Carlus Padrissa.
Leon Gurvitch hat ein neues Werk „Silentium“ für Piano & Strings komponiert, das er mit seinem Ensemble als Weltpremiere in der Elbphilharmonie am 31.03.2023 aufführen wird. „Silentium“ bringt die Lage und die Stimmung der Künstler in der Pandemie sowie in der Kriegszeit zum Tragen.
Patrik Klein, 22. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musiksalon bei Irina und Leon Gurvitch klassik-begeistert.de
Interview von Patrik Klein mit Axel Ranisch, Opéra de Lyon, 18. März 2022
Interview NDR Akademie, Lucie Krysatis und Jens Plücker Klassik