Mein Gott, was für eine fantastische Musik!
Mein Gott, was für originelle Texte!
Mein Gott, was für großartige Sänger!
von Ulrich Poser
Mitte der 1980er Jahre weilte der Autor als Jurastudent in West-Berlin. Die erste Studentenbude fand er in einer zotteligen Wohngemeinschaft in der Kaiser-Friedrich-Straße in Berlin-Charlottenburg, unweit der Deutschen Oper Berlin (DOB). Dort lernte er in der reichlich vorhandenen Freizeit die italienische Oper, vorzugsweise Werke von Puccini und Verdi, kennen und lieben. Sein unangefochtener Star war damals Luciano Pavarotti. Die DOB besuchte er meistens mit einem Freund, der immer wieder davon anfing, wie “genial” die Musik von Wagner doch sei. Der Autor lehnte kategorisch mit den Worten “Wagner? Fürchterlich!” ab: Wagners Musik sei zu schwer, die Sänger bläkten zu laut; außerdem war Wagner zu antisemitisch eingestellt, so dass man ihn schon deshalb nicht hören sollte.
Dieses Spiel (“Wagner ist super” – “Wagner? Nein danke!”) ging bis ca. 1987. Das war das Jahr in welchem der Wagner-Freund (ein kauziger Elektrotechnik-Student) dem Puccini-Freund eines Abends nach dem 5. Bier offenbarte, dass Wagner ihn mehr und mehr verrückt mache. Jetzt wurde es interessant: Die Musik sei “so fantastisch, dass man komplett durchdrehen” könne. Als der Elektrotechnik-Student dann auch noch seltsame Züge offenbarte (er fing an, in übertriebener, Richard-Wagner-schreibt-an-König-Ludwig-Art überschwängliche Dankesbriefe an Götz Friedrich zu schreiben, weil dessen Ring-Inszenierung so epochal und weltbewegend sei), kaufte sich der dem leichten Rausch grundsätzlich immer gewogene Autor für 6 deutsche Mark bei Hertie in Steglitz irgendeine Wagner-CD, ohne zu wissen, welche.
Diese CD lag dann ein paar Monate ungehört herum. Bis zu dem Tag, der das Leben des Puccini-Freundes ein für alle Mal verändern sollte. Es war ein kalter, nebeliger Novembertag, der Jurastudent lebte mittlerweile in einer kohlebeheizten Erdgeschosswohnung in Berlin-Schöneberg. Vom eifrigen Studium (oder von zu langen Kneipenbesuchen am Vorabend) geschwächt, suchte der Noch-nur-Puccini-Liebhaber am Nachmittag das Sofa im dunklen Wohnzimmer zur Rast auf, legte mit letzter Kraft die neue Wagner-CD in den Player und schlummerte sofort ein. In einer Art somnambulen Rauschzustandes, irgendwo in der Twighlight-Zone zwischen Wachsein, Schlaf und Traum, offenbarte sich dem Erschöpften nach den Worten “Ein Schwert verhieß mir der Vater” die musikalische Wahrheit:
– Mein Gott, was für eine fantastische Musik!
– Mein Gott, was für originelle Texte!
– Mein Gott, was für großartige Sänger!
Seit diesem Erweckungserlebnis, man könnte auch von einer Erscheinung sprechen, war der Bekehrte jedes Jahr auf dem Grünen Hügel und ist ständiger Gast in den Opernhäusern dieser Welt. Auch im Jahr 2020 verkündet er noch allerorts: Wagners Musik ist – mit großem Abstand – die großartigste Musik, die je ein Mensch schuf.
Die Erweckungseinspielung war übrigens eine Aufnahme der Walküre mit Helen Traubel und Lauritz Melchior unter Erich Leinsdorf aus der Metropolitan Opera aus dem Jahre 1941.
Ulrich Poser, 4. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de