„Lohengrin“: Die Wagner’sche Vertreibung aus dem Paradies überzeugt in Bremen

Richard Wagner, „Lohengrin“, Premiere am Theater Bremen  15. September 2024

Richard Wagner
Premiere „Lohengrin“ am Theater Bremen,
15. September 2024

von Oxana Arkaeva

In Wagners „Lohengrin“ gilt das ungeschriebene Gesetz: Fragen sind tabu. Doch wie Elsa ringt das Publikum am Premierenabend mit der Neugier und wird mit vielen Fragen nach Hause entlassen.

Die Geschichte von Lohengrin weist verschiedene literarische Wurzeln und Vorlagen auf. Eine entscheidende Rolle für Wagners Opernlibretto spielte die Sammlung „Deutsche Sagen“ der Brüder Grimm (Nr. 536) und diente als eine der wichtigsten Vorlagen für sein Libretto.

„Lohengrin ist Wagners schönste, vielleicht auch seine pessimistischste Oper. Ein unglaubliches Stück Musiktheater über die Unmöglichkeit, Ideale ins reale Leben zu übertragen“, sagt Regisseur Frank Hilbrich.

Seine packende Interpretation des romantischen Opernklassikers überzeugt auf ganzer Linie. Sie fordert das Publikum heraus, über die Grenzen des Fragens und über sich selbst und die Zeit, in der wir leben, zu reflektieren. Gekonnt schlägt Hilbrich die Brücke zwischen Wagners zeitlosen Themen und brennenden Fragen unserer Gegenwart. Die Handlung wird in ein fiktives mitteleuropäisches EU-Land verlegt. Der Pantheon-artige, einheitliche Bühnenraum (Harald Thor) ergänzt durch kreative Beleuchtung (Christian Kemmetmüller) besticht durch schlichte Eleganz und gestalterische Flexibilität.

Im Zentrum steht eine willenlose, erstarrte Gesellschaft, gefangen in politischem Umbruch und sozialer Krise. Statt Eigenverantwortung zu übernehmen, klammert sie sich an utopische Hoffnungen. Die blindgläubige Bereitschaft, einen namenlosen Helden zum Anführer zu erküren, spiegelt erschreckend aktuelle politische Tendenzen wider. Als der vermeintliche Retter mit seiner Revolution scheitert und das Schlachtfeld fluchtartig verlässt, stürzt die Gesellschaft in eine noch tiefere Krise.

Ein zentrales gestalterischer Element der Inszenierung ist der kreative Einsatz von Spiegeln und Spiegelsplittern. Diese dienen mal als Mittel zur Selbstbetrachtung, mal als Reflexionsfläche und gelegentlich sogar als Waffe, die verschiedene Ebenen der Selbsterkenntnis, Zweifel und (Ent-) Täuschung, die das Stück durchziehen, symbolisieren. Die persönliche Geschichte von Elsa und Lohengrin wird vom Regisseur als eine Art Wagner’sche Vertreibung aus dem Paradies interpretiert. Lohengrin erscheint als göttlicher Retter, der Elsa paradiesisches Glück verspricht. Das Frageverbot erinnert an das biblische Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Ortrud fungiert als Verführerin, die wie die biblische Schlange Zweifel in Elsa sät. Elsas fatale Frage nach Lohengrins Identität wird zum Sündenfall, der zum Verlust des erhofften Glücks führt. Am Ende bleiben die schmerzhafte Erkenntnis und der Verlust der Utopie.

Hilbrichs durchdachte Personenführung und geschickte Interpretation ihres Handelns verstärken die gesamte Wirkung dieser Inszenierung. Elsas Motivation, Lohengrin zu heiraten, ist von Anfang an ersichtlich, während seine Beweggründe erst zum Schluss offenbar werden. Als Gralsritter und Sohn des Gralskönigs Parsifal sucht er eine Frau, die bedingungslos an ihn glaubt. Durch die reine Liebe einer Sterblichen hofft er von seiner Göttlichkeit erlöst zu werden. Doch die Intrigen von Ortrud und Telramund, die in einem Mord enden, gepaart mit eigenen Selbstzweifeln und dem Fragenverbot, führen zum Scheitern des Paares und stürzen alle Beteiligten ins Chaos.

Wagners ambivalente Sicht auf Frauen zwischen Idealisierung und Dämonisierung spiegelt sich in Interpretation der Figur der Elsa wider. Sie ist sowohl passive, sich aufopfernde Frau als auch starke Persönlichkeit mit eigenem Willen. Hilbrich betont diese Stärke Elsas besonders deutlich. Auch optisch erscheint sie nicht als typische blonde Elsa, sondern eher als Lulu mit kurzem schwarzem Bob, Magenta-Ledermantel und weiten Hosen. Ihre Handlungen treiben die Opernhandlung voran, mit weitreichenden Konsequenzen für alle. Letztlich scheitert sie an Eigenzweifeln und Wissenslust – ein typisches Motiv in Wagners Frauenfiguren. Sarah-Jane Brandon überzeugt darstellerisch, gesanglich steigert sie sich erst zum Ende des Abends hin.

Christopher Sokolowski (33) als Lohengrin liefert an diesem Abend ein fulminantes Rollendebüt. Statt eines schillernden Ritters in schwerer Ausrüstung verkörpert er einen sympathischen, sensiblen, schmächtigen jungen Mann voller Selbstzweifel und Angst. Als Antiheld sucht er wie der Holländer Erlösung in einer Frau und scheitert. Sein Spiel ist authentisch und mühelos und stimmlich ist Sokolowski eine wahre Entdeckung. Seine klare, gut platzierte und dynamisch ausbalancierte Stimme beherrscht sowohl Pianissimi und Legati als auch Messa di Voce. Die perfekte Aussprache krönt seine außerordentliche Leistung und lässt auf eine große und vor allem lange erfolgreiche Karriere hoffen.

Das Gesangsensemble (fast gänzlich vom Haus besetzt) wird von herausragenden männlichen Leistungen dominiert und ist durch exzellente Aussprache und musikalische Einstudierung ausgezeichnet. Neben Sokolowski beeindruckt Elias Gyungseok Han als Friedrich von Telramund mit starker Baritonstimme, außerordentlicher Musikalität und überzeugendem Spiel. Seine Stimme harmoniert perfekt mit Sokolowskis und lässt ein perfektes Verdi-Tandem erahnen. Hidenori Inoue als König Heinrich besticht durch imposante Erscheinung und Wohlklang. Nadine Lehner liefert in ihrem Debüt als Ortrud eine beeindruckende darstellerische Leistung und überzeugt stimmlich besonders in den tiefen Lagen.

Die Bremer Philharmoniker unter Stefan Klingele steigerten sich von einem zögerlichen Beginn zu orchestraler Gewalt am Ende des Abends. Klingele erwies sich als feinfühliger Begleiter und Wagnertreuer Dirigent, der seinem Orchester eine farbenreiche Klangpalette entlockt. Chor und Extrachor, einstudiert von Karl Bernewitz, überzeugten stimmlich und darstellerisch. Nicht endender Applaus und glückliche Gesichter beenden einen großartigen Opernabend. Eine der zahlreichen Fragen hallt jedoch nach: Was wäre geschehen, hätte Elsa ihre Frage nicht gestellt? Doch das ist eine andere Geschichte.

Oxana Arkaeva, 17. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung am Premierenabend:

Hidenori Inoue – Heinrich der Vogler, deutscher König                                            Christopher Sokolowski – Lohengrin
Sarah-Jane Brandon– Elsa von Brabant
Elias Gyungseok Han – Friedrich von Telramund, brabantischer Graf
Nadine Lehner– Ortrud
Michał Partyka– Heerrufer des Königs
Junkyu Kim, Yuheng Wei, Ill-Hoon Choung, Chaoyan Yang – Vier Brabantische Edlen                                                                                                                      Miku KobayashiMei MatsumotoAndrezza ReisMariam Murgulia – Vier Brautjungfern
Opernchor des Theater Bremen und Extrachor

Bremer Philharmoniker

Stefan Klingele – Musikalische Leitung
Frank Hilbrich – Regie
Harald Thor – Bühne

Tanja Hofmann – Kostüme
Karl Bernewitz – Chorleitung
Christian Kemmetmüller– Licht
Frederike Krüger – Dramaturgie

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