Birgit Nilsson, Mirella Freni, Edita Gruberova, Plácido Domingo, Luciano Pavarotti: Der Hamburger Mediziner Dr. Ralf Wegner hat die großen Weltstars der Opernwelt seit Ende der 1960er-Jahre alle live erleben dürfen: in der Staatsoper Hamburg, die in den 1970er-Jahren noch zu den weltbesten Opernhäusern zählte und sich heute um Anschluss an die europäische Spitze bemüht. Begeben Sie sich in ein wunderbares Stück Operngeschichte und reisen sie mit in eine Zeit, die scheinbar vergangen ist.
© Westermann, Staatsoper Hamburg
von Dr. Ralf Wegner
Das Operngeschehen liegt darnieder, Erinnerungen müssen herhalten. An die Oper kam ich durch einen Schulkameraden, dessen Eltern ihr Abonnement in der Hamburgischen Staatsoper manchmal abgaben. Später erwarben meine Eltern ein Abonnement, das meine Frau und ich dann später übernahmen. Als Abonnent bekam man dieses und jenes vorgesetzt, vielleicht nicht immer die besten Besetzungen oder die gewünschten Stücke; so wurde manches dazu gekauft, jetzt seit Jahren mit der „Operncard“, mit der man in der Hamburgischen Staatsoper für 99 Euro jährlich eine Woche vor der Aufführung die Karten in den besten Kategorien zum halben Preis erwerben kann.
Wenn ich mich an etwas gern erinnere, dann fast ausschließlich an gesangliche Leistungen, fast nie an die Inszenierungen oder die Bühnenbilder; mit wenigen Ausnahmen: „Parsifal“ in der Ausstattung von Ernst Fuchs (Peter Hofmann, Kurt Moll, Weikl/Grundheber, Rysanek/W. Meier) oder „Die Walküre“ in einer Inszenierung von Günther Rennert. Bei dem Feuerzauber handelte es sich noch um einen Feuer“zauber“, und nicht, wie später gesehen, um glühende Steine oder eine gasofenartige Installation. Wenn in der Rennert-Inszenierung die züngelnden Flammen langsam auf den um die Spielfläche gezogenen bühnenhohen Gazevorhang projiziert wurden und Wotan schließlich verdeckten, konnte selbst ein eingesprungener, am Ende seiner Sängerkarriere stehender Bariton noch reüssieren. Neben Theo Adam und Donald McIntyre war Simon Estes ein herausragender Wotan gewesen, er übernahm diese Partie mehrfach in den 1990er-Jahren.
Unverblasst sind die Auftritte von Birgit Nilsson und später von Edita Gruberova. Nilssons Stimme flutete den Raum wie keine andere, ihre stahlblau schimmernden Spitzentönen lagen so sicher über dem Orchester wie Öl auf dem Wasser, ihre Hojotohos in der „Walküre“ waren unvergleichlich, ihre Mittellage (Todesverkündung) sanft und klar und zu Herzen gehend, ihre Agamemnon-Anrufung ging unter die Haut, ihr Schlussgesang in der „Elektra“ führte das Publikum zur Raserei. Nie habe ich erlebt, dass eine Sängerin nach der Aufführung so lange vor den Vorhang gerufen wurde. Wenn ich mich recht erinnere, konnte es bis zu 40 Minuten dauern. Zwischen 1969 und 1981 hörte ich sie zwölfmal in der Hamburgischen Staatsoper, viermal als Elektra, dreimal als Walküren-Brünnhilde, je zweimal in „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ sowie einmal als Baraks Weib in Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“.
Manchmal fragt man sich, warum man eine Sängerin oder einen Sänger anfangs nicht so recht wahrgenommen hat. Das ging mir mit Edita Gruberova so, bis sie in Hamburg in einer Neuinszenierung der „Ariadne auf Naxos“ als Zerbinetta besetzt wurde. Ich hörte sie in dieser Rolle dreimal, 1979 mit Catarina Ligendza und Peter Hofmann, 1980 mit Eva Marton und Rene Kollo sowie 1982 mit Anna Tomova-Sintow und Dennis Bailey. Ihre Koloraturgeläufigkeit war nicht nur technisch phänomenal, sie spielte vielmehr mit den Tönen wie ein Jongleur mit mehreren Bällen, aber nicht zirzensisch, sondern interpretatorisch. Sie hatte ihre Dreimännertruppe und schließlich auch Ariadne im Griff. Der Beifall nach der Arie „Großmächtige Prinzessin“ war jedesmal überwältigend und fast unendlich. Ihre Bravourarien aus selten aufgeführten Stücken wie „Anna Bolena“ oder „Beatrice di Tenda“ (1999, 2005), vor allem aber ihre Lucia (1981) klangen überwältigend. Aus der Violetta war sie 2010 allerdings schon herausgewachsen. Mehrfach gab sie Konzerte mit sogenannten Wahnsinnsarien (1993, 1997). Ich erinnere mich noch wie heute, wie es damals in der Staatsoper Hamburg klang: Feuerwerksgleich schossen ihre Töne an die Decke des Saals, explodierten dort und füllten den Raum hell leuchtend mit glitzerndem, sich prachtvoll entfaltendem Sternenregen, der langsam zu Boden sinkend noch einmal verschwenderisch aufglühte.
Ausufernden Zwischenbeifall wie nach Gruberovas „Großmächtige Prinzessin“ erlebte ich nur noch bei Luciano Pavarottis „furtiva lagrima“ im Jahre 1977 (mit Mirella Freni als Adina). Mirella Freni wirkte, abgesehen von der damaligen Neuinszenierung des „Liebesstranks“, bei ihren von mir gesehenen Auftritten in Hamburg, so als Mimi, verglichen mit Pavarotti immer etwas reserviert. Pavarotti war ein Sänger, der mit der Stimme gestaltete und damit seine physischen Einschränkungen völlig überdecken konnte. Zwischen 1971 und 1977 hörte ich ihn in Hamburg noch im „Maskenball“, in „Lucia di Lammermoor“, als Sänger im „Rosenkavalier“ sowie in „La Bohème“.
In meiner ersten „Bohème“ sang 1967 ein damals noch recht unbekannter, von Rolf Liebermann nach Hamburg engagierter junger Tenor, dessen sängerischen und darstellerischen Qualitäten sich wie ein Lauffeuer herumsprachen. Es handelte sich um Plácido Domingo, der neben Arlene Saunders den Rodolfo sang. Saunders war eine an der Hamburgischen Staatsoper von Rolf Liebermann häufiger besetzte US-amerikanische Sängerin mit einer weichen, leicht schwingenden lyrischen Stimme, die man immer wieder gern hörte. Man kann es nicht anders sagen, aber Domingo war der beste Sängerdarsteller im Tenorfach, den ich je gesehen und gehört habe. Er stülpte sich die Rollen über und entwickelte eine Präsenz und Ausdruckskraft, die ihresgleichen suchte, und dabei sang er noch unglaublich gut. So 1971 als für mich bis heute unübertroffener Don José, später als Manrico, Don Carlos, Otello und in der Sizilianischen Vesper. Zuletzt hörte ich ihn 1979 als Rodrigo in Massenets „El Cid“. Danach war es nur noch schwer, für ihn Karten zu bekommen. Und, soweit ich mitbekommen habe, besser als in den 1970er Jahren hat er später auch nicht gesungen, wenngleich seine Bühnenpräsenz auch heute noch als Bariton unvergleichlich ist (als Macbeth in der Fernsehübertragung).
Unvergessen sind auch die endlos schwebenden Piani von Montserrat Caballé, die wunderbare Stimme von Margaret Price oder der emotionsgeladene Schrei von Leonie Rysanek als Sieglinde gegen Ende des 1. Aufzugs der „Walküre“, wenn Siegmund Nothung aus dem Stamm zieht. Caballé hörte ich erstmals 1972 in Paris in einem Konzert. Weniger erinnere ich mich an ihren Gesang, vielmehr sank sie während der Vorstellung ohnmächtig zu Boden und das Konzert wurde abgebrochen. Eine Unterbrechung erzwang auch Franco Bonisolli bei einer konzertanten Aufführung von Rossinis „Wilhem Tell“ im Jahre 1982. Während Giuseppe Taddei seinen Duettpart lieferte, schwieg Bonisolli. Schließlich klopfte der Dirigent Jacques Delacote ab und das Publikum wurde in die Pause geschickt. Später hieß es, die Luft im Saal sei für Herrn Bonisolli zu trocken gewesen. Schließlich wurden vom Bühnenhimmel Wassernebel auf die Bühne gepustet. An Bonisolli schieden sich die Geister. Niemand war so höhensicher wie er, niemand hielt das „All’armi“ am Ende der Stretta im „Troubadour“ (1980 mit Marton, Obraszowa und Zancanaro, 1982 mit Evstatieva, Toczyska und Zancanaro) so lang und so deutlich über Chor und Orchester liegend wie er. Er erhielt dafür ohrenbetäubenden Jubel und wegen seiner extrovertierten Darstellung, die stets seine Person und nicht die Rolle in den Vordergrund stellte, ebensoviel Widerspruch. 1982 sang er in Hamburg Radames in einer wohl von ihm mitgebrachten bein- und oberarmfreien Kostümierung, um seine noch immer athletische Figur zu präsentieren. Als Aida war die eher rundliche, aber göttlich singende Margaret Price in ein zwar nicht bein-, aber für sie ungünstiges oberarmfreies Kostüm gezwängt worden. Die Konzentration auf beider Schlussgesang erreichte damit nicht das notwendige Maß.
Zwischen 1980 und 2003 hörte ich häufiger Eva Marton. Diese großartige Sängerin verfügte wie kaum eine andere über eine eindrucksvolle Bühnenaura. Wenn sie als Küsterin (Jenufa) auf die Bühne trat, brauchte sie den Mund nicht mehr zu öffnen, man war gebannt und wusste intuitiv, was folgte. Gleiches galt für ihre Tosca (1980 mit Aragall und Wixell, 1984 mit Bonisolli und Wixell), Ortrud oder ihre Turandot (1983 mit Bonisolli, 1988 mit Giorgio Lamberti). Schließlich sang sie noch Elektra, ebenfalls eindrucksvoll, aber wer kann schon mit Birgit Nilsson konkurrieren. Einen Bariton will ich noch erwähnen, der mich umhaute: Sherrill Milnes, er hatte das, was man eine Röhre nennt, er trat 1973 als Riccardo zusammen mit Luciano Pavarotti im –„Maskenball“ auf und sang bis 1983 noch Jago (1975 mit Domingo), Posa, Rigoletto und den Carlos in der „Macht des Schicksals“.
Leider habe ich nie Joan Sutherland gehört, da ich, als sie in Hamburg engagiert war, auswärts studierte. Dafür erlebte ich noch 1968 Leontyne Price bei einem Konzert im Kongresssaal des Deutschen Museums in München und 1973 Maria Callas bei ihrer Abschiedstournee mit Guiseppe di Stefano im Großen Saal des Hamburger Congresscentrums. Es waren nur noch Reste ihrer Stimme vorhanden, aber selbst das reichte, um dieses Konzert in Erinnerung behalten zu haben.
Viele gute Sänger haben der Hamburgischen Staatsoper jahrzehntelang die Treue gehalten, drei möchte ich erwähnen: Kurt Moll, Franz Grundheber und Hellen Kwon. Einen besseren Bass für die Rollen, die er sang, als Kurt Moll habe ich nie gehört. Nur er hatte die nötige Tiefe für den Osmin oder den van Bett und außerdem die samtige Höhe, wenn erforderlich. Vor allem, er war stets eine Bank, auf die man setzten konnte, meiner Erinnerung nach fiel er nie aus. Knapp 60 Mal hörte ich ihn, natürlich noch als Sarastro, als Daland, Hunding, Marke, Ochs, Gurnemanz, vor allem auch als Großinquisitor.
Franz Grundheber taucht auf meinen Opernzettel erstmals 1967 als Herold in Otello auf. Nach insgesamt ca. 80 Aufführungen hörte ich ihn zuletzt 2014 als Amonasro. Seine Stimme hatte über die knapp 50 Jahre nie nachgelassen, immer wurde seine Leistung bejubelt, sei es als Rigoletto, Scarpia, Orest, Simon Boccanegra, Vater Germont, Amfortas oder in den letzten Jahren als Holländer und Macbeth. Gern hätte man von ihm den Wotan gehört. Vielleicht hätte die Stimme dann aber nicht so lange gehalten. Bewusst nahm ich Grundheber erstmals 1989 als Zar Peter wahr (mit Kurt Moll als van Bett in Lortzings „Zar und Zimmermann“), was war das für eine schöne Stimme. Seitdem war jede Aufführung mit Grundheber ein Ereignis.
Mit beiden, Moll und Grundheber, sang häufiger Hellen Kwon. Sie war eine umwerfende Blonde, die Kurt Moll als Osmin um den kleinen Finger wickelte. Sie machte aus der Musette in „La Bohème“ eine Glanzpartie, als Gilda war sie (mit Grundheber als Rigoletto) unübertroffen, ebenso überzeugte sie mit einer überirdisch schönstimmigen Sophie im „Rosenkavalier“ oder als Violetta. Später sang sie Konstanze, an ihre stimmlichen Grenzen gelangend auch Donna Anna und Chrysothemis. Ihr fast vibratofreier, weit tragender, weicher, nie scharf klingender Sopran brachte etwas italienisches in die Partie der Senta. Für die Butterfly war sie optisch und stimmlich prädestiniert, aber auch als Liu. Ich mochte sie auch als Agathe und Mimi. Sie ist jetzt noch als 5. Magd in Elektra oder als Gerhilde in der „Walküre“ eine Spitzenbesetzung. Im Juni soll sie erstmals wieder eine größere Partie singen, die Micaela in „Carmen“. Aber wer weiß heute, was in zwei Monaten sein wird.
Ralf Wegner, 30. März 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieber Herr Dr. Wegner, als Münsteraner besuchte ich häufig die „Hamburgische Staatsoper“, und Ihr Artikel hat viele angenehme Erinnerungen hervorgerufen. Betreffend Plácido Domingo hatte ich dasselbe Erlebnis, aber in der Tosca am 21.2.1971 auch zusammen mit Arlene Saunders – als Karnevalsflüchtling war das meine erste Vorstellung in Hamburg überhaupt, auch meine erste Übernachtung im damaligen Baseler Hospiz auf Empfehlung des Getreidehändlers und Mäzens Alfred Toepfer. Nun hofft, dass er möglichst bald ohne Ansteckungsgefahr wieder Musik in Hamburg erleben kann
Sigi Brockmann aus Münster – auch Mitglied der Brahms-Gesellschaft in Hamburg