Foto © Zani Casadio
Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna 2019
Riccardo Muti arbeitete in Ravenna mit Nachwuchskünstlern an
Le nozze di Figaro
Von Kirsten Liese
Als gebürtiger Salzburger steht Wolfgang Amadeus Mozart in Österreich und Deutschland in langer Tradition. Herausragende Aufführungen seiner Opern allerdings sind zunehmend seltener zu erleben, es sei denn Riccardo Muti steht am Pult.
Umso dankbarer ist man dem mittlerweile 78-Jährigen, dass er in diesem Sommer in seiner 2015 gegründeten Opernakademie in Ravenna anbietet, was es sonst auf der ganzen Welt kaum mehr gibt: ein minutiöses Proben an der Hochzeit des Figaro mit jungen Dirigenten, Sängern und dem Nachwuchsorchester Luigi Cherubini.
Schon im vergangenen Jahr, als Verdis „Macbeth“ auf dem Programm stand, konnten wir uns davon überzeugen, dass der gebürtige Neapolitaner eine natürliche Begabung für das Unterrichten besitzt, die nicht jedem großen Künstler unweigerlich gegeben ist. Hoch motiviert und bestimmt leitet er die Eleven an – mit Verzicht auf ein Honorar – und auf sympathische Art, väterlich, kollegial und humorvoll.
Le nozze di Figaro ist nicht nur seitens des Librettos von Lorenzo da Ponte durch und durch eine italienische Oper, wie wir lernen. Muti sensibilisiert für Details, die selbst unter prominenten Sängerinnen und Sängern nicht-italienischer Herkunft kaum bekannt sein dürften. Oder wer hat schon einmal gehört, dass die Arie der Barbarina L’ho perduta, me meschina! (Unglücksel’ge kleine Nadel) am Kompositionsstil Giovanni Battista Pergolesis – hierzulande weitgehend nur noch bekannt für sein „Stabat Mater“ orientiert ist?
Im Laufe einer Woche treten noch so manche raffinierte Doppeldeutigkeiten zutage. Wenden wir uns zum Beispiel dem langen Finale im vierten Akt zu: Ecco l’uccellatore! bemerken da Susanna und Figaro in Takt 23, zu Deutsch Sieh, da kommt der Vogelsteller. Vogelsteller? Wen haben wir uns darunter vorzustellen? Den Grafen als Verführer gewiss, nicht zu verwechseln mit dem Vogelfänger Papageno in der Zauberflöte, aber darin drückt sich noch nicht das kühn-verspielte Wortspiel aus, muss man dazu doch wissen, dass „uccello“ zwei Bedeutungen vereint: den Vogel und –umgangssprachlich- das männliche Geschlechtsteil.
Besonderes Augenmerk in der letzten Szene des Finales verdient zudem der melancholisch eingetrübte Moment im Pianissimo (Takt 445), in dem Mozart die scheinbare Zufriedenheit aller „Ah tutti contenti, saremo cosí“ („So blühet uns allen das herrlichste Glück“) subtil der Lüge überführt. Von wegen „Friede, Freude, Eierkuchen“, klärt Muti auf, der Graf hat sich für seine Untreue bei der Gräfin zwar entschuldigt, aber der Schmerz wirkt nach. Das bedeutet, die vier Takte haben Gewicht, die Musik wird langsamer, leiser, schwermütiger im Ausdruck. Da fehlen in Aufführungen oft Dimensionen- vom Szenischen erst gar nicht zu reden.
Die fünf Dirigier-Eleven David Quang Tho Bui aus Vietnam, der aus einer deutsch-italienischen Musikerfamilie kommende Nicolò Umberto Foron, Felix Hornbachner aus Österreich, Stephen Lam aus Hongkong und die schon viel beschäftigte Chinesin Jiannan Cheng, wirken etwas erfahrener als ihre Vorgänger im vergangenen Jahr und einige darunter bereits durchaus ausgeprägt in ihrer Persönlichkeit. Dank Mutis klaren, unmissverständlichen Ansagen können sie vieles schnell umsetzen, sei es, wie man das Orchester bei Tempowechseln oder beim Entschleunigen zusammenhält und bei einer Generalpause oder Fermate die Spannung. Einfach nur das Ende einer Phrase abwinken und die nächste neu ansetzen, reicht nicht aus. Pause oder Fermate sind Teil der Musik, die sich gedanklich auf einem großen Bogen fortsetzen muss, sonst flaut sie ab.
Das A und O eines jeden Dirigenten liegt freilich im Kommunizieren mit den Musikern, die der oder die Dirigierende stets alle im Blick haben sollte, um den richtigen Ausdruck zu übertragen, lehrt Muti.
Am besten versichern sich die Junioren, dass die Musiker umsetzen können, was sie verlangen, wenn sie plastisch vormachen, wie sie etwas haben wollen, das sagt weit mehr als eine nebulöse Ansage wie „dringlicher“, wie es sich Dirigentin Cheng an einer Stelle wünscht und en passant dazu lernt, dass sie dem Orchester immer sagen sollte, warum sie in einer Probe abbricht. Es könnte andernfalls so manchen frustrieren, eine Stelle wiederholen zu müssen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was besser werden soll.
Damit wären wir bei der Orchesterpsychologie, die in Mutis Unterricht stets ihren Raum findet. Beim ersten Einsatz, das lernt Hornbachner, sollte er das Orchester in der ihm abverlangten Aufmerksamkeit nicht mit zu langem Warten überstrapazieren. Und noch was: „Wir sind keine Showmaster“, mahnt Muti, will heißen, es mit den Bewegungen nie zu übertreiben.
Von seinen Akademie-Teilnehmern verlangt der Maestro nichts, was er selbst nicht einlöst, lässt die Jungen auch längere Zeit mal am Stück proben, ohne dazwischen zu gehen, oder ruft vereinzelt wichtige Stichworte zu, ermahnt besonders oft zu einem noch leiseren Musizieren, um die Einleitung zu einer Arie oder den Untergrund für ein Ensemble noch geheimnisvoller, delikater oder zärtlicher zum Ausdruck zu bringen wie beispielsweise die Introduktion zum Porgi amor, der Arie der Gräfin im zweiten Akt.
Wer nur wenige Stunden dieser wertvollen Arbeit verfolgt, wünschte sich, so manche namhafte Pultstars in Mutis Schule zu schicken, bei denen es oftmals in Aufführungen an ähnlichen Unachtsamkeiten hapert wie bei den Eleven.
Und was für herrliche Stimmen, die meisten darunter noch wenig bekannt, versammelte Maestro Muti, mithin auch ein dankbarer Sänger-Mentor, um sich! Direkt aus Ravenna kommt Vittoria Magnarello als eine noch sehr junge Susanna Anfang 20 mit einem bildschönen, schlanken, hellen Sopran. Sie steht ohne nennenswerte Erfahrungen auf der Bühne noch am Anfang einer vielversprechenden Laufbahn, ein wenig besorgt, die hohen Ansprüche des Maestros zu erfüllen, wie sie sagt, aber nimmt allein schon mit der natürlichen Schönheit ihres Timbres für sich ein. Serena Gamberoni, eine Gräfin mit wunderbarer Pianokultur und schon an renommierten Bühnen unterwegs, schätzt es zudem an Muti, dass er auch Interpretationen zulässt, die von seinen Vorstellungen abweichen, sofern sie in sich schlüssig sind. Mit Alessio Arduini als einem auffallend gewitzten Figaro, seit 2012 im Ensemble der Wiener Staatsoper, ist ein schon arrivierter Bariton an Bord, der noch wertvolle Erkenntnisse dazu gewinnt, wie er sagt. Mit Luca Micheletti als einem stimmstarken, aber auch mit lyrischen Qualitäten gesegneten Grafen ist noch ein trefflicher Bariton an Bord, der uns mit seinem fulminanten Rollendebüt als Jago im Otello beim Ravenna Herbstfestival 2018 in bester Erinnerung geblieben ist. Von einem solch vorzüglichen Ensemble, noch dazu ausschließlich rekrutiert aus italienischen Sängern, können viele renommierte Häuser nur träumen.
All diese Talente können noch viel mitnehmen von dem kenntnisreichen, erfahrenen Maestro, der an den von uns besuchten Probentagen vor allem viel dazu aufruft, im Ausdruck kecker und flotter zu werden.
Bei aller lyrischen Schönheit gerät etwa das Duett von Susanna und Gräfin in allzu langsamen Tempo zu andachtsvoll wie auf einer Beerdigung, was bewusst wird, als Muti die Sänger augenzwinkernd persifliert. „Che soave zeffiretto“ („Wenn die sanften Abendwinde“) beginnt dieses Duettino, bei dem es noch eine wichtige Erkenntnis gibt: Der Standesunterschied zwischen Gräfin und Kammermädchen Susanna ist hier durch die Musik aufgehoben, zwei Frauen singen auf Augenhöhe, und idealer Weise so, dass man ihren Stimmen im Wechsel kaum auseinander halten kann.
Ähnlich kommt die Rosenarie der Susanna anfänglich ein wenig brav daher, an der die Studierenden zudem üben können, keine Löcher zwischen den einzelnen Phrasen entstehen zu lassen, Pausen stets mit Spannung zu füllen.
Stets mit der denkbar größten Akribie dem Komponisten verpflichtet, schenkt Muti freilich auch der unterschätzten, in vielen Aufführungen ausgesparten, Arie des Basilio Aufmerksamkeit: „In quegli anni in cui val pocola mal pratica ragion“ (In jungen Jahren, in denen der Verstand, noch wenig geübt und wenig zählt) Phrase für Phrase nimmt er sie genauestens unter die Lupe, liest sie vor und analysiert die Partie, die – nicht wie oft fälschlich angenommen- nicht nur eine komische, sondern zugleich eine ernste ist. Und präsentiert mit Matteo Falcier einen Tenor de luxe für diese kleine Rolle, für die der sich allerdings, wie er einräumt, ansonsten nicht so sehr engagiert, was man freilich versteht, kann dieser grandiose, international noch zu entdeckende Sänger mit seinem herrlichen Belcanto doch eher mit bekannten Arien aus Donizettis Liebestrank oder Verdis Rigoletto zeigen, was er auf dem Kasten hat.
Kirsten Liese, 16. August 2019
für klassik-begeistert.de