BPhi, Kirill Petrenko © Monika Rittershaus
Ansonsten gibt es nichts zu mäkeln. Diese „Frau ohne Schatten“ beschert den Berlinern einen Höhepunkt der Saison. Das Publikum dankte mit stehenden Ovationen.
Konzertante Aufführung, Philharmonie Berlin, 14. April 2023
Richard Strauss: Die Frau ohne Schatten
Oper in drei Akten op.65
Clay Hilley Der Kaiser
Elza van den Heever Die Kaiserin
Michaela Schuster Die Amme
Wolfgang Koch Barak, der Färber
Miina-Liisa Värelä Die Färberin
Bogdan Baciu Der Geisterbote
Evan LeRoy Johnson Der Jüngling
Johannes Weisser Der Einäugige
Nathan Berg Der Einarmige
Peter Hoare Der Bucklige
Berliner Philharmoniker
Cantus Juvenum Karlsruhe Kinder- und Jugendchor
NFM-Chor Breslau
Kirill Petrenko Dirigent
von Kirsten Liese
Als das Stück vor wenigen Wochen bei den Osterfestspielen in Baden-Baden seine Premiere hatte, flackerten wieder einmal allerhand Vorurteile auf: „Die Frau ohne Schatten“ sei angeblich frauenfeindlich und ein überholtes, altmodisches Stück, dass sich nur deshalb noch ertragen ließe, weil Lydia Steier eine alptraumhafte Geschichte in einem Mädcheninternat hinzu erfunden habe.
Ungeachtet der genialen Musik und abgesehen von der Gesellschaft, die – so wie Strauss und Hofmannsthal sie erlebten, als sie an der 1917 uraufgeführten Oper arbeiteten – gewiss patriarchal strukturiert war, erscheint mir das eine sehr vordergründige Betrachtungsweise, die den tiefen Kern des Werkes verkennt. Denn letztlich ging es Hofmannstahl, dem Librettisten, nicht um die Manifestation eines konservativen Rollenbilds, das Frauen nur in der Mutterschaft die Erfüllung ihres Seins zuspricht, sondern vielmehr um die Empathie, die eine Kreatur erst zum Menschen macht. In dieser Hinsicht befindet sich die Kaiserin auf einem ähnlichen Weg wie Wagners Parsifal, sie muss sich darin beweisen, mit anderen Menschen mitzufühlen, über das Mit-Leiden das eigene Ego hintenanzustellen. Hofmannstahl selbst sprach in diesem Kontext von dem „Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst“.
Indem die Kaiserin im Laufe der Ereignisse also Mitleid für den Färber überkommt, für ihn und seine Frau Verantwortung übernimmt, und dafür sogar die Rettung ihres geliebten, versteinernden Mannes opfert, wird sie zu einem fühlenden, gewissenhaften Menschen.
Interessanterweise ist es nebenbei gesagt wieder einmal – wie in fast allen Opern von Strauss und Hofmannstal – eine Frau, die exemplarisch diese Stärke aufbringt, während der Kaiser, ihr Gatte, wegen falscher Rückschlüsse in einer Szene schon kurz davorsteht, seine Frau umzubringen. Von wegen ein misogynes Stück.
„Die Frau ohne Schatten“ ist vielmehr sogar ein sehr aktuelles Stück im Hinblick auf unsere heutige gespaltene Gesellschaft, in der viele Menschen nicht einmal bereit sind, einander zuzuhören.
Ich bin jedenfalls heilfroh, dass mir die reiflich abenteuerliche, aufwendige Inszenierung von Frau Steier mit der herbeifantasierten Mädcheninternatsgeschichte erspart geblieben ist, so dass ich mich in der – traditionell den Osterfestspielen folgenden – konzertanten Aufführung ganz auf die Musik konzentrieren konnte.
Klanglich war es vom Allerfeinsten, was das Orchester von den ersten harten Schlägen an unter seinem Chefdirigenten Kirill Petrenko leistete, der vor allem die aufwühlende Dramatik mit Furor herausstellte. Die dynamischen Spitzen lotet er voll aus, das Unheilvolle in Gestalt des Geisterboten, der menschenhassenden Amme und der drohenden Schreckensszenarien sind jederzeit präsent. Nur in den leisen, kantableren Regionen der Partitur wäre atmosphärisch-dynamisch noch mehr drin gewesen. Da hätte es noch stärker knistern mögen. Aber das ist Kritik auf sehr hohem Niveau.
Mit präzisen Zeichen dirigiert jedenfalls Petrenko, wahrt die großen Spannungsbögen und atmet in jeder Phrase spürbar mit.
Bei aller Dramatik wirkt nichts überhetzt, auch in den ariosen Momenten lässt er Ruhe walten, die es braucht, damit sich der Konzertmeister (Noah Bendix-Balgley, wenn ich richtig geschaut habe) sein herrlich verträumtes Geigen-Solo in jenem Moment der Erlösung, in dem die Kaiserin unverhofft doch noch einen Schatten wirft, im denkbar schönsten Ton entfalten kann. Ludwig Quandt spielt sein melancholisches Cello-Solo in der Einleitung zur Szene des Kaisers mit seidenem Ton, warm, intim und mit schlafwandlerischer Sicherheit in den virtuosen Aufgängen. Und auch alle anderen solistisch bedachten Instrumente haben ihren besonderen Auftritt, sei es nun die Solo-Oboe mit ihrem zärtlichen Falkenmotiv, der viel beschäftigte Schlagzeuger, Solo-Bratsche, Solo-Posaune oder die Fagotte mit einem grotesken kleinen Duett.
Bei alledem behauptet sich die besondere Klasse dieses Spitzenorchesters wieder einmal mit der Brillanz von Hörnern, Posaunen und Trompeten, die ihre Chöre makellos intonieren.
Noch dazu bescherte diese „Frau ohne Schatten“ ein tolles Sängerfest, das damit punktete, erstklassige Kräfte jenseits der viel herumgereichten, üblichen Verdächtigen aufzubieten.
An erster Stelle ist die Finnin Miina-Liisa Värelä als Färberin zu nennen. Und dies nicht nur dank ihrer mächtigen, sicher durch alle Lagen geführten Stimme und der exorbitanten Strahlkraft ihres Soprans, sondern auch dank ihres facettenreichen, entworfenen Rollenporträts einer anfänglich unterkühlten Frau, die ihren Mann brüsk abserviert, im Tiefsten ihrer Seele aber auch mit sich hadert und voller Sehnsucht ist nach der Liebe. Da wurden Erinnerungen an so große Vorgängerinnen wie Birgit Nilsson, Christa Ludwig oder Ursula Schröder-Feinen wach.
Als Färber Barak gefiel mir Wolfgang Koch noch besser als zuletzt 2019 an der Wiener Staatsoper. In der Philharmonie durchlebt er seine Partie mit großer Präsenz, sehr guter Textverständlichkeit und schöner Tongebung.
Schier in Begeisterung versetzt mich zudem Michaela Schuster als Amme. Ich muss bekennen, dass ich befürchtete, die einstige große Wagnersängerin könnte schon etwas abgesungen sein, nachdem mir in Erinnerung geblieben war, dass sie – als ich sie vor längerer Zeit zuletzt hörte – weniger sang als schrie. Davon konnte diesmal nicht die Rede sein, die Amme scheint der Mezzosopranistin wie auf den Leib geschrieben zu sein, sowohl seitens ihrer volltönenden, sonoren Stimme in diesem Charakterfach als auch der starken Verinnerlichung der Figur, was sich in einer auffallend starken Mimik ihres Menschenekels ausdrückte.
Apropos Mimik: Wieder einmal zeigte sich bei dieser Gelegenheit, wie Sänger, wenn sie nicht unter dem Diktat einer abstrusen Regie stehen, intuitiv ihre Rollen überzeugend durchleben. Mithin kam auch das theatralische Element an dem langen Abend in der Philharmonie nicht zu kurz.
Mit dem Amerikaner Clay Hilley als Kaiser, den ich noch nicht auf dem Schirm hatte, konnte ich überdies einen Heldentenor mit einer enormen Durchschlagskraft erleben, der zurecht im Ruf steht, auf internationalen Bühnen mit seinen Strauss-Interpretationen für Furore gesorgt zu haben.
Und dann war da unter den Protagonisten noch Elza van den Heever als Kaiserin, die nach der Premiere in Baden-Baden von einigen Kritikern als Glanzlicht der Produktion herausgestellt wurde. Nachdem ich in den vergangenen Jahren nahezu in allen Strauss-Opern allerorten nur noch Camilla Nylund in den weiblichen Hauptpartien gehört habe, bin ich dankbar, einmal diese Sopranistin gehört zu haben, die in der Tat mit großer Sicherheit und Durchschlagskraft diese schwierige Partie meistert, mich wegen ihres etwas spröden Timbres aber nicht ins Schwärmen bringt.
Es mag daran liegen, dass meine Erwartungen vielleicht aufgrund des überragenden Kritikerlobs zu hoch waren und meine Maßstäbe – die sich immer noch an den überragenden Leistungen von Leonie Rysanek aus den 1970er Jahren orientieren, für mich die Parade-Kaiserin aller Zeiten – zu hoch gewesen sein mögen.
Ansonsten gibt es nichts zu mäkeln. Diese „Frau ohne Schatten“ beschert den Berlinern einen Höhepunkt der Saison. Das Publikum dankte mit stehenden Ovationen.
Kirsten Liese, 15. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Strauss (1864-1949) – Die Frau ohne Schatten Baden-Baden, Festspielhaus, 9. April 2023
NÜRNBERG: DIE FRAU OHNE SCHATTEN – NI am 23. Oktober 2022 6. Dezember 2022
In der Tat, die Inszenierung in Baden- Baden war eine Spur zu opulent. Die
Doppelhandlung überforderte die Sinne, lenkte von der Musik ab. Beispielhafte Reizüberflutung.
Gisela Lange