Christian Thielemann mit der Urkunde. Foto: Michael Pöhn
Er kann es ja doch noch. Der Gedanke, die Wiener Staatsoper vielleicht nach der ersten Pause verlassen zu müssen, hat sich bereits nach dem ersten Takt in Luft aufgelöst. Da hatte Christian Thielemann noch gar nicht viel gemacht, außer den Auftakt gegeben. An manchen Tagen spürt man aber bereits da – heute, da könnte das was werden, da liegt etwas Großes in der Luft. Spätestens nach ein paar Takten, nachdem die Streicher einsetzen, steht es endgültig fest: Endlich, endlich, hat der Herr „Kapellmeister“ wieder das Geheimnis gelüftet, wie man aus einer Partitur mehr herausholt als nur saubere Noten.
Richard Strauss
Die Frau ohne Schatten
Wiener Staatsoper, 21. Oktober 2023
von Jürgen Pathy
Spannung, Genuss und Leidenschaft bis zum Ende, wo das Haus am Ring wieder Kopf steht. Bei Thielemann ja sowieso schon so sicher wie das Amen im Gebet – und somit alles andere als ein Beweis für eine hervorragende Vorstellung. An diesem Abend aber, da muss ich vor dem „Maestro“ den Hut ziehen, der den „Kapellmeister“ nicht ganz so in den Vordergrund gedrängt hat: Spitzenklasse! So stelle ich mir das vor, wenn Thielemann am Pult steht. Keine Notwendigkeit also, das Haus vorzeitig zu verlassen, um sich den Frust in spanischem Rotwein zu ertränken.
Dass man diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung zieht, ist ja schon das Absurde. Christian Thielemann, der von vielen aufs Podest gehobene, der fast schon unantastbare Großmeister – und man spielt im Vorfeld mit dem Gedanken, die Karte verfallen zu lassen. Aus Sorge, es könnte mal wieder einer dieser Abende werden, wo man nach weit mehr als drei Stunden! Nettospielzeit – so lange dauert die „Frau ohne Schatten“, in Wien spielt man noch dazu die Originalfassung – zur Erkenntnis gelangt: Außer Langeweile nichts gewesen.
Doch im Gegensatz zur Wiederaufnahme der Produktion vor einigen Tagen schöpft Thielemann endlich wieder aus dem Vollen. Fleisch mit ordentlich Sauce, würde er das wohl nennen. Der alte Parfümeur, der endlich wieder all seine Geheimrezepturen aus dem Hexenkoffer packt, und das Haus in eine Duftwolke hüllt, als hätte Jean-Baptiste Grenouille, der Hauptdarsteller des Romans „Das Parfum“, den Schlüssel zur Glückseligkeit gefunden. „Maestro“ eben und nicht nur „Kapellmeister“, auf dessen Schultern sich Thielemann in letzter Zeit nur allzu oft ausgeruht hat.
Völlig in die Schranken hat er den natürlich nicht verwiesen. Thielemann hofiert die Sänger, vor allem die Hauptfiguren wie eh und je durch Hugo von Hofmannstahls Libretto. Andreas Schager, der Kaiser dieser Vorstellung, erstrahlt wohltuend aus dem Einheitsbrei an Timbres, die man heutzutage leider zu oft vernehmen muss. Eine ideale „Strauss-Tröte“, wie manche seine kräftige, markante Stimme bezeichnen. Ebenso vereinnahmend Elza van den Heever als Kaiserin, die sich im Laufe des Abends immer mehr von ihren stimmlichen Fesseln lösen kann.
Bei Tomasz Konieczny – er springt an diesem Abend für Michael Volle ein – wäre der „Kapellmeister“ gar nicht notwendig. Kraft und Dynamik – dafür steht der Name Konieczny. Dass der Wotan dem polnischen Bassbariton somit eher in die Hände spielt als Barak, der Färber, das sollte man an diesem Abend aber nicht verheimlichen.
Bei einigen, da schmeißt Thielemann seine Tugenden aber immer wieder mal völlig über Bord. Clemens Unterreiner ist einer der Leidtragenden. Eine Bürde, die man als Geisterbote, eine kleine Partie, nun mal zu tragen hat. Thielemann opfert ihn zugunsten der Gesamtwirkung und erschlägt ihn am Ende im Orchester-Tutti, was in Wien nicht nur in Ordnung ist, sondern hin und wieder ganz einfach notwendig.
An der Wiener Staatsoper gibt es nämlich nur einen Star. Das hat Christian Thielemann schon bei seiner Laudatio vergangenen Samstag anklingen lassen, als man ihn zum „Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper“ ernannt hat. Vor versammelter Mannschaft, drei Direktoren inklusive, die Sänger im Spalier, beinahe wie kleine Schulkinder, aber wirklich Honig um die Lippen hat er nur einer Institution geschmiert: den Wiener Philharmonikern, sprich dem Wiener Staatsopernorchester – auf diesen kleinen, aber feinen Unterschied legen einige sehr viel wert.
Die laufen an diesem Abend auf Hochtouren. Bereits der Auftakt beim Vorspiel: Was auch immer Thielemann mit denen an diesem Abend angestellt haben mag, denen an der Tuba, den Posaunen, den Hörnern, im Grunde dem ganzen Blech – bitte her mit dem Geheimnis. So weich hat man die vielleicht noch nie intonieren gehört.
Dann dieses Cello-Solo im zweiten Akt, eine Melodie, die starke Züge eines „Kaddish“ aufweist, eines jüdischen Totengebets – zum Weinen schön. Dass man dabei in Assoziationen verfällt, die an die Gräueltaten der Nationalsozialisten erinnern, befeuert Vincent Huguets Inszenierung auch noch vehement. Der Franzose hat die Szenerie zwar auf ein Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs verlegt, Auschwitz, Dachau und Buchenwald rücken da dennoch weit in den Vordergrund, während auf der Bühne die toten Soldaten übereinander gestapelt liegen.
Hinzu die ganze Mannschaft der Streicher. Wie ausgewechselt: die Harmonie, der warme, volle, satte Klang, den man am Samstag noch so schmerzlich vermisst hat – plötzlich ist er da. Ein Gefühl, als läge man in Mamas Schoß, begleitet einen durch die ganze Vorstellung, während man in den Tiefen dieses Orchester versinkt. Und wenn dann zum Ende hin noch Konzertmeister Volkhard Steude zu diesem innigen Geigensolo ansetzt, weiß man eigentlich schon zuvor – Achtung Tränendüsen: Jetzt wird es richtig wehtun.
Was immer auch Christian Thielemann an diesem Abend anders gemacht hat. An welchen Schrauben er bei den Wiener Philharmonikern gedreht hat – kein einfacher Klangkörper, bei dem man schon wissen muss, an welchem Faden man nun ziehen darf und an welchem nicht –, das war einsame Spitzenklasse, die Thielemann wieder öfters liefern muss.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 22. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Strauss, Die Frau ohne Schatten Oper Köln, 17. September 2023
warum nur findet dieser herr jürgen pathy sich und seine befindlichkeit so zentral für einen opernabend. er ist wohl ein grüner frosch?
Gerhard Rohne