„Parsifal“ mit und ohne „Augmented-Reality-Brillen“: nette Technik die noch ausbaufähig ist

Richard Wagner (1813 – 1883) „Parsifal“  Bayreuther Festspiele, 27. Juli 2024

Parsifal, 3. Aufzug: Matthew Newlin (4. Knappe hinten li), Derek Welton (Amfortas), Jorge Rodríguez-Norton (3. Knappe vorn re), Chor der Bayreuther Festspiele © Enrico Nawrath

Musikalisch überzeugt der „Parsifal“ auf  jeden Fall!

Richard Wagner (1813 – 1883)
„Parsifal“

In deutscher Sprache
Libretto vom Komponisten
Uraufführung 1882 in Bayreuth

Bayreuther Festspiele, 27. Juli 2024

von Dr. Bianca M. Gerlich    

„Parsifal“, die Neuinszenierung von 2023, brachte erstmals den Einsatz erweiterter Technik  („Augmented Reality“!) mit sich, nämlich die AR-Brillen. Es war zu befürchten, dass diese Brille manche überfordert, also verzichtete ich letztes Jahr darauf und fühlte mich bestätigt, da die AR-Brillen-Benutzer in der Reihe vor mir die Brille alsbald ablegten und lieber ohne Hilfsmittel den „Parsifal“ sahen. Doch ich war neugierig geworden, und dieses Jahr musste es unbedingt eine Aufführung mit AR-Technik sein. Hier ein Vergleich.

Der „Parsifal“ von Jay Scheib funktioniert sowohl mit als auch ohne Brille, das muss ja auch so sein, sonst wäre es ungerecht der überwiegenden Mehrheit der Zuschauer gegenüber, die ja ohne Brille dem Bühnengeschehen folgen. Die Inszenierung ohne Brille ist recht unaufgeregt, überschaubar, und man kann sie Anfängern empfehlen, denn hier wird nicht verfremdet oder gar etwas ganz anderes, als das, was im Libretto steht, gezeigt. Es ist alles da: Amfortas mit (stark thematisierter) Wunde, Titurel lebendig und tot, die Blumenmädchen, ein rosa Zauberer namens Klingsor, Gralsritter, sogar ein Gral in der Deutung eines Steins und und und… Ein bisschen Deutung ist auch vorhanden, insbesondere im dritten Aufzug, wenn die Umweltvernichtung durch den Kobald-Ab-/Raubbau (dringend benötigt für E-Autos und Smartphones) verdeutlicht wird.

Überdies hat auch der Zuschauer ohne Brille zwei Ebenen zu bewältigen. Es werden parallel zum Bühnengeschehen Live-Videos von den Darstellern gezeigt, meistens in Großaufnahme, gern Kundry, aber auch die Wundversorgung im ersten Aufzug en detail. Das ist ganz nett, wenn man weit weg sitzt, aber ein bisschen überflüssig.

Die AR-Brille intensiviert darüber hinaus das Geschehen. Die Symbole aus dem Werk fliegen einem förmlich um die Ohren: Gralsspeere, Waffen, Tauben, Schwäne, Blumen und vieles mehr. Es gibt nur ganz wenig ruhige Momente ohne fliegende Sachen oder aufgebauten Gebäuden. Manches doppelt das Bühnengeschehen, z.B. der Speer, der ist ja auch auf der Bühne als geknicktes Metallteil vorhanden. Oder die Blumen: sowohl auf der Bühne, aber immens erweitert durch AR. Da ertrinkt man fast in diesem Blumenmeer und die Blumenmädchen werden auch plastisch als Körper mit Blumen statt Kopf/Hand/Fuß gezeigt. Aber eigentlich braucht es diese Doppelungen nicht wirklich, das ist mehr oder weniger Dekoration.

Parsifal, 1. Aufzug: Andreas Schager (Parsifal) © Enrico Nawrath

Die AR-Technik bringt erst dann etwas, wenn sie das Bühnengeschehen sinnvoll ergänzt. So sehen wir auf der Bühne Klingsor in einem kleinen Raum rechts, der eine merkwürdige Öffnung hat. AR erweitert dieses auf der Bühne angedeutete Gebäude. Jetzt sieht man nur eine riesige Mauer – wirklich riesig von rechts nach links und oben nach unten, und nur ein kleiner Ausschnitt zeigt den Klingsor. Das ist beeindruckend: Klingsor ist nun total verbarrikadiert, seine Festung quasi uneinnehmbar. So wünscht man sich den AR-Einsatz.

Berührend auch die Szene mit dem Schwan im ersten Aufzug. Sobald Parsifal den Schwan abschießt, liegt sehr groß ein Schwan auf dem Rücken direkt vor dem Zuschauer, die Füße nach oben, der Pfeil steckt drin, der Kopf ist zum Zuschauer hin verdreht. Er liegt da sehr lange unbeweglich, aber auf einmal, während der langen Klage vom Gurnemanz ob des Schwan-Abschusses, richtet dieser Schwan noch einmal seinen Kopf auf und guckt einem direkt ins Gesicht. Wie eine Anklage! Den Tränen so nah! Ja, wenn AR gut zu vertiefen und berühren vermag, dann ist sie eine sinnvolle Erweiterung der Festspiele.

Aber die Technik lenkt auch ein wenig ab. Es gibt an einigen Stellen einen Kreis mit einem Zentrum in der Mitte, den kann man per Kopfbewegung steuern. Wenn man also seinen Kopf nach links bewegt, läuft dieser Kreis nach links mit. Während des Karfreitagszaubers kann man damit sogar die schöne Blumenwiese „mähen“. Nur die zwei Lämmer haben sich von meinen wilden Kopfbewegungen nicht ärgern lassen.

Geärgert habe ich mich dann ein bisschen, nämlich dass ich gar nicht mehr auf die schöne Musik (Lieblingsstelle!) geachtet habe, sondern fast in einer Art Computerspiel versunken bin. Wiederum schön am Ende, dass man den goldenen Kreis mit der Taube steuern kann. Ich habe ihn bis zum Ende im Zentrum des Leuchtrings gehalten, der auf der Bühne auf- und abfahren konnte. Furtwängler hätte sich gefreut: Ein „Parsifal“ ohne Taube am Ende ging seiner Meinung nach gar nicht!

Parsifal, 2. Aufzug: vlnr Ekaterina Gubanova (Kundry), Margaret Plummer, Flurina Stucki, Catalina Bertucci, Betsy Horne, Marie Henriette Reinhold, (alle Klingsors Zaubermädchen), Chor der Bayreuther Festspiele © Enrico Nawrath

Kurzum, ich habe drei Aufzüge lang mit AR-Brille durchgehalten und fand es sehr kurzweilig. Letztes Jahr fand ich die Inszenierung recht langatmig, da ist man ja mittlerweile anderes gewohnt. Der Einsatz der Brille vertieft aber eigentlich nur das Geschehen. Mehr Aha-Momente wären schön gewesen, denn das ewige Umherschwirren von Kleinteilen war schon etwas zu viel des Guten.

Sängerisch war der „Parsifal“ auf ganz hohem Niveau – wie schon letztes Jahr.

Parsifal, 1. Aufzug : vlnr: Derek Welton (Amfortas), Betsy Horne, Margaret Plummer, Jorge Rodríguez-Norton, Matthew Newlin (die 4 Knappen), Tobias Kehrer (Titurel ), Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Andreas Schager (Parsifal), Siyabonga Maqungo, Jens-Erik Aasbø (die 2 Gralsritter), Chor der Bayreuther Festspiele © Enrico Nawrath

Es stimmt, in Bayreuth singen die besten Sänger, es ist purer Genuss. Wir hörten einen souveränen Andreas Schager als Parsifal, der auch schöne lyrische Stellen aufwies, eine wunderbare Ekatarina Gubanova, gesanglich hervorragend und auch von ihrer Erscheinung her super passend, Derek Welton hatte berührende Momente im ersten Aufzug während seiner langen Klage, Glissandi verdeutlichen seinen endlosen Schmerz, Jordan Shanahan als Klingsor ebenfalls tadellos.

Parsifal, 3. Aufzug: Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Ekaterina Gubanova (Kundry) © Enrico Nawrath

Am meisten Applaus erhielt Georg Zeppenfeld, der als Gurnemanz  zurzeit unübertroffen ist. Sehr wortverständlich, dabei im Fluss, eine schöne Stimme, wunderbare Technik!

Auch der Dirigent Pablo Heras-Casado erntete reichlich Applaus für sich und das wunderbare Festspielorchester, ebenso der Chorleiter Eberhard Friedrich und der hervorragende Festspielchor. Achtungsapplaus gab es für die Regie.

Der Applaus war so wie die Inszenierung: ohne Höhen und Tiefen.

Dr. Bianca M. Gerlich, 28. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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