„Der Fliegende Holländer“: Michael Thalheimers düstere Neuinszenierung in der Staatsoper Hamburg gibt Rätsel auf

Richard Wagner: „Der Fliegende Holländer“  Staatsoper Hamburg, 23. Oktober 2022 (Premiere)

 Jennifer Holloway, Benjamin Bruns Foto: Hans Jörg Michel

Richard Wagner: „Der Fliegende Holländer“

Staatsoper Hamburg,  23. Oktober 2022 (Premiere)

von Dr. Holger Voigt

Der Holländer ist ein Lohengrin. Statt auf einem Schwan zu reisen, der ausgesprochen elegant zu navigieren versteht, entscheidet er sich für einen Großsegler mitsamt unheimlicher Zombie-Matrosenschaft, die ihn auch prompt im Gefolge eines üblen Sturmes in der Bucht Sandvika bei Norwegen stranden lässt. Damit ist die schöne Elsa aus Antwerpen an der Schelde keine Option mehr für ihn, und er muss nun mit Senta vorlieb nehmen. Fast wortgleich kommuniziert Richard Wagner über seine Protagonisten mit den schönen Frauen seiner romantischen Sehnsüchte:

„Senta, Senta! Willst Du mich verderben?“ („Der Fliegende Holländer“)

„Elsa, was willst Du wagen?“ („Lohengrin“)

Kaum dass Lohengrin bzw. der Holländer die Opernbühne erklommen haben, verbreiten sie auch schon mystische Andeutungen über ihre Herkunft und Bestimmung, die zu ergründen fortan Aufgabe der Protagonisten sein wird, möglichst ohne dabei zum Unzeitpunkt das verborgene Geheimnis aufzudecken. Doch am Ende gibt es kein Entrinnen vor der Wahrheit. Braucht Lohengrin dafür eine längere Gralserzählung, geht es beim „Fliegende Holländer“ doch vergleichsweise hurtig zu. Immer muss der Rätselgeber das Weite suchen und bleibt im romantischen Mysterium auf der Strecke, verwunschen oder gar verdammt, wenn er nicht durch Suizid einer liebenden Frau Erlösung erfährt. Meist zieht er dabei die weiblichen Protagonisten mit ins Verderben, denen Richard Wagner transzendierende suizidale Opferbereitschaft auf den Leib komponiert. So stürzt sich Senta unmittelbar nach der Offenbarung des Holländers in den Tod und übertrifft dabei an Geschwindigkeit sogar noch Elisabeth aus dem „Tannhäuser“, die sich in Bayreuth gar in eine Biogasanlage versenkt.

Das ist der Stoff, aus dem Richard Wagner bereits schon in seiner ersten abendfüllenden Oper „Der Fliegenden Holländer“ seine Opern gestrickt hat. Aber was für ein Weltbild steckt bei Wagner dahinter! Die Frauen sollen sich opfern, nur damit die Männer davonkommen oder erlöst werden???

Thomas J. Mayer, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Mitglieder des Herrenchores der Nationaloper Kyiv

Sehr lange Zeit gab es an der Staatsoper Hamburg keine Premiere des „Fliegenden Holländers“ mehr (zuletzt 21. Januar 1996). Deshalb herrschte große Neugier und Erwartungsspannung, als diese Oper in der Neuinszenierung von Michael Thalheimer auf den Spielplan gesetzt wurde.

In Hamburg weiß jeder, wie Großsegler aussehen. Deshalb ließ man jede Andeutung eines Seglers auch vollständig fort und konzentrierte sich auf eine imaginative Seefahrt, die fluchbedingt niemals endet, sofern nicht das Opfer einer liebenden Frau diesen 7 Jahre währenden Fluch durchbricht.

Michael Thalheimer inszeniert den „Fliegenden Holländer“ so düster, dass man versucht sein könnte, überall das Licht anzuknipsen. Das machen aber schon die Chormitglieder, die als schaurige Matrosen sowie undefinierbare Angstwesen Beleuchtungseffekte einsetzen, um eine dämonische Atmosphäre zu erzeugen. Anfänglich ist dieses Spektakel visuell nicht ohne Reiz, doch zieht es sich schleppend über lange Zeiträume durch die Handlung. Wenn die Gesichter von unten Flash-artig beleuchtet werden, sieht dieses in der Tat dämonisch aus, doch sobald man dieses weiß, ist es auch schon nicht mehr so eindrucksvoll. So ist der Chor „Steuermann, lass die Wacht…“ optisch so langatmig, dass die dämonische Wirkung rasch verfliegt. Es kommt nichts in Bewegung, ausgenommen ein paar Gewitterblitze, die dann auch nicht mehr schrecken können.

Vergleichbares läßt sich über die zahllosen Plastikstreifen sagen, die durchgehend von der Decke auf den Boden herabhängen und die Protagonisten sich wie an Marionettenfäden bewegen lassen. Das passiert durchgehend, fast stundenlang und ermüdet jeden Betrachter. Sollte das eine Visualisierung eines „Verstrickungsnetzes“ sein, dem keiner entkommen kann und das die Bewegungsspielräume limitiert oder gar aufhebt? Und was hat es mit den Figuren auf sich, die sich in merkwürdiger Weise auf und über die Bühne bewegen, ohne jemals zu Protagonisten zu werden? Fragen über Fragen – doch erdrückend in ihrer zeitbezogenen Ausdehnung.

Jennifer Holloway, Foto: Hans Jörg Michel

Ein weiteres Stilelement scheint die „Cluster-Bildung“ zu sein: Eng zusammenstehende Gruppe – z.B. der „Summ-Chor“ („Summ und brumm, du gutes Rädchen“) – bilden quasi dramaturgische Inseln, die für kurze Zeit ein Eigenleben zu haben scheinen. Dazu gehören die verschiedenen Positionsanordnungen der Senta, die sich am Anfang und Ende der Oper aus einer Art „Verpuppungskorsett“ befreien zu wollen scheint. Auch das passiert in geradezu epischer Langsamkeit.

Musikalisch zeigte die Premierenaufführung hohe Qualität. Von meinem Platz aus klang das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Kent Nagano klar und akzentuiert, dynamisch perfekt ausbalanciert und sehr gut im Bläserklang. Die einzelnen „Buh-Rufe“ konnte ich deshalb nicht nachvollziehen.

Katja Pieweck, Jennifer Holloway, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Foto: Hans Jörg Michel

Die Chöre – verstärkt durch den Herrenchor der Nationaloper Kyiv (Leitung: Bogdn Plish) – waren ein absolutes Highlight, auf das man hoffen durfte und nicht enttäuscht wurde.

Die Sänger und Sängerinnen des Abends überzeugten sehr in Stimmführung, Expression und Klangschönheit. Sie zeichneten sich – besonders auffällig! – durch eine hervorragende Sprachdeutlichkeit aus.

Großartig Benjamin Bruns als Erik, der zusammen mit Jennifer Holloway (Senta) in den Hauptrollen brillierte. Wer die Entwicklung von Jennifer Holloway kontinuierlich verfolgt hat, wird konstatieren können, dass ihre dramatisch-expressive Wagnerstimme über die Zeit immer kräftiger und wohlklingender geworden ist. Verdienter Beifall für ihre herausragende Leistung. Auch die Leistungen des Holländers und des raffsüchtigen Daland waren von guter Qualität.

Jennifer Holloway, Benjamin Bruns, Foto: Hans Jörg Michel

Für das Inszenierungsteam unter Michael Thalheimer gab es zum Abschluss nicht unerwartet viele Buh-Rufe – so ist das halt bei Neuinszenierungen! Doch ist es wahr: Was hätte man aus diesem packenden „Stoff“ herausholen können, wenn man stringent und originell inszeniert hätte! Stattdessen zog sich die ohnehin ohne Pause aufgeführte Oper in episch wirkender Länge über die Bühne und enttäuschte viele.

Dr. Holger Voigt, 24. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung: Michael Thalheimer
Bühne: Olaf Altmann
Kostüme: Michaela Barth
Licht: Stefan Bolliger
Dramaturgie: Ralf Waldschmidt

Chor der Hamburgischen Staatsoper, Leitung: Eberhard Friedrich
Chor der Nationaloper Kyiv, Leitung: Bogdan Plish

Daland: Kwangchul Youn, Bass
Senta: Jennifer Holloway, Sopran
Erik: Benjamin Bruns, Tenor
Mary: Katja Pieweck, Mezzosopran
Der Steuermann Dalands: Peter Hoare, Tenor
Der Holländer: Thomas J. Mayer, Bariton

Richard Wagner, Der fliegende Holländer Staatsoper Hamburg, 23. Oktober 2022 PREMIERE

Richard Wagner, Der fliegende Holländer Bayerische Staatsoper, 24. September 2021

Richard Wagner, Der fliegende Holländer, Bayreuther Festspiele 2021

Richard Wagner, Der fliegende Holländer Bayerische Staatsoper, Nationaltheater, 7. Juli 2021

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