Über den Dächern von Nürnberg

Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg  Oper Leipzig, 23. Oktober 2021

Die Oper Leipzig glänzt mit einer herausragenden Produktion von Richard Wagners „Meistersingern“.

Oper Leipzig, 23. Oktober 2021
Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg

Fotos: Oper Leipzig, Die Meistersinger von Nürnberg © Kirsten Nijhof

Musikalische Leitung: Ulf Schirmer
Regie: David Pountney
Bühne: Leslie Travers
Kostüme: Marie Jeanne Lecca
Licht: Fabrice Kebour

Hans Sachs: James Rutherford
Walther von Stolzing: Magnus Vigilius
David: Matthias Stier
Eva: Elisabet Strid
Magdalene: Kathrin Göring
Veit Pogner: Sebastian Pilgrim
Gewandhausorchester
Chor und Zusatzchor der Oper Leipzig

von Kirsten Liese

Ulf Schirmer und David Pountney sind ein bewährtes Team wie einst Daniel Barenboim und Harry Kupfer. Mehrfach haben Dirigent und Regisseur bei den Bregenzer Festspielen packende Produktionen auf die Beine gestellt, ihre allererste Gemeinschaftsarbeit war 1989 der „Fliegende Holländer“ auf der Seebühne. Wie gut die beiden miteinander harmonieren, konnte man zur jüngsten Premiere in Leipzig wieder erleben. Dort galt es  – um das vorwegzunehmen –  die trefflichsten und ansprechendsten „Meistersinger“  seit Jahren zu erleben. Dies vor allem auch deshalb, weil Pountney sich nicht an der NS-Rezeptionsgeschichte und an Wagners Antisemitismus abarbeitet wie so viele Andere in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, sondern sich wieder ganz auf das Stück selbst besinnt.  Folglich ist es auch das mittelalterliche, im Titel verankerte Nürnberg, das hier in nie gesehener Weise Raum erfährt.

Die Bühne von Leslie Travers exponiert zunächst ein holzgeschnitztes  mittelalterliches Nürnberg im Puppenstubenformat und drum herum ein modernes  Amphitheater. Ein Einheitsbühnenbild könnte man annehmen, staunt dann aber, welche atmosphärischen szenischen Verwandlungen darauf noch möglich sind. So schaut man im zweiten Akt  unter eindrucksvollen Beleuchtungswechseln auf ein nächtliches Nürnberg mit dem einen oder anderen Lichtchen in den Stuben, später wird die Prügelfuge unter Auftritt von Männern mit Schlagstöcken zu einem kriegerischen, surreal angehauchten Sinnbild. Zu den letzten Tönen des Nachtwächters legt sich eine fotografische Ansicht vom zerbombten Nürnberg  über die Arena.

Und was für ein Moment, wenn sich nach dem Vorspiel zum dritten Akt –  von dem Gewandhausorchester unter Ulf Schirmer berührend langsam und schwermütig erkundet –  der Vorhang öffnet und dahinter unverhofft eine zünftige Schusterstube sichtbar wird, wie sie uns lange nicht mehr vergönnt war und zugleich bestens organisch ins Gesamtbild eingepasst. Das inzwischen zerstörte Nürnberg, nunmehr eine Ruine, befindet sich nun als schmaler Streifen über der Stube und wird mit ihr vor der letzten szenischen Verwandlung in den Bühnenboden hinabfahren.

Die tolle Bildidee taugt zugleich ideal dazu, den Konflikt einer Gesellschaft aufzuzeigen, in der sich die etablierten Alten – von Marie Jeanne Lecca in prächtige Mode des 16. Jahrhunderts eingekleidet – mit dem jungen Neuerer Stolzing, von Anfang an ein heutiger Außenseiter, arrangieren und zusammenraufen müssen. Am Ende gleicht sich Stolzing der Gemeinschaft an, wenn er zu seinem Preislied im vornehmen Anzug auftritt. Und doch hat sich gleichzeitig viel verändert: Das alte Nürnberg ist untergegangen, in hellem Licht erstrahlt nun, abermals im Kleinformat, der Deutsche Reichstag.

Damit sind die Weichen für Ulf Schirmers vorzügliche musikalische Einstudierung gestellt. Das majestätische C-Dur erstrahlt, ob nun zum Vorspiel oder zur krönenden Schlussszene breit und mächtig, auch in dem Moment, nachdem Sachs und Stolzing vor Beckmessers Auftritt in der Schusterstube abgehen, dreht Schirmer freudig groß auf. Aber nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht: Dies war mitnichten ein ausnahmslos lauter Premierenabend,  die lyrischen filigranen Momente kamen ganz zu ihrem Recht, auch wenn Elisabeth Strids Evchen ein bisschen der Liebreiz fehlt und sie in dem Quintett „Selig wie die Sonne“ nicht mit den gebotenen strahlend schwerelosen Kopftönen aufwarten kann. Größe bezeugt Strids Eva dafür im Dramatischen, also in jener Szene, wo Sachs und sie sich voneinander endgültig losreißen.

Aber die Eva in dieser Inszenierung ist ohnehin weniger brav als gewohnt. Am Schluss, nachdem Sachs dem Sieger Stolzing über die ehrenwerte deutsche Kunst die Leviten gelesen hat und beide Männer sich einvernehmlich in den Armen liegen, sucht sie das Weite, enttäuscht offenbar von dem Bräutigam, der nun nicht mehr der rebellische Außenseiter ist, den sie einmal liebte. Es ist der einzige Moment in dieser Inszenierung, in der sich  David Pountney moderat eine künstlerische Freiheit herausnimmt, eine, die nicht zwingend erscheint, aber auch nicht völlig abwegig. Jens-Daniel Herzog war in seiner jüngsten Inszenierung im benachbart sächsischen Dresden da noch etwas radikaler: Bei ihm machten sich Eva und Stolzing gemeinsam aus dem Staub.

Gesungen und musiziert wird ansonsten – mit kleinen Abstrichen – nahezu vergleichbar vortrefflich wie zuletzt in der grandiosen Thielemann-Produktion, und dies trotz einer Hiobsbotschaft: Mathias Hausmann, bis zur Generalprobe als Sextus Beckmesser in bester Disposition, erkältete sich just am Premierensamstag, so dass er seine Rolle nur spielen konnte. In dem aus Bayreuth stammenden Ralf Lukas, der ihm vom Bühnenrand die Stimme lieh, fand er indes einen idealen Kompagnon. Zwischenzeitlich vergaß man, dass die Stimme von der Seite kam, so homogen korrespondierten die beiden Männer seitens musikalischer Gestaltung, Mimik und Bewegung.

Freilich steht und fällt die Oper mit der Besetzung des Sachs, und der ist hier bei dem stimmlich profunden, erfahrenen James Rutherford in besten Händen, gibt er doch wie einst ein  Bernd Weikl oder Robert Holl den Schuster als einen weisen, erhabenen und – ja auch etwas stämmigen – Mann.

Der Stolzing von Magnus Vigilius gefällt mit großem Volumen und erinnert mit seinem betont hellen Timbre stupend an Klaus-Florian Vogt, forciert nur etwas in den Spitzen seines Preislieds im dritten Akt.

Matthias Stier singt seinen David mühelos und höchst agil in allen Lagen. In kleineren Rollen runden Kathrin Göring (Magdalene), Sebastian Pilgrim (Veit Pogner), Tobias Schabel (Fritz Kothner) und Sejong Chang (Nachtwächter) singend und spielend die treffliche Vorstellung ab.

Ein langer, herzlicher, verdienter Beifall blieb nicht aus. Nicht zum ersten Mal empfiehlt sich Leipzig mit seinem guten Geschmack Wagnerianern als eine Alternative zu einer Metropole wie Berlin, wo schon lange keine Wagner-Neuinszenierung mehr von den Stühlen riss.

Freilich schade, dass Schirmer, der dieses Profil als Generalmusikdirektor und Intendant stark ausgeprägt hat, das Haus zur nächsten Spielzeit verlässt. Aber zuvor gibt es 2022 noch eine „Lohengrin“-Premiere unter seiner Leitung und dann eine große Sause mit zwei Zyklen aller 13 Opern von Wagner (inklusive der Frühwerke).  Wenn das nichts ist – auf und hin!

Kirsten Liese, 25. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, Oper Leipzig, 23. Oktober 2021

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