Dieser Parsifal goutiert sich wesentlich angenehmer ohne als mit Brille... und vor allem ohne Applaus mitten im Schlussakkord

Richard Wagner, Parsifal  Bayreuther Festspiele, 24. August 2023

Parsifal 2023 © Enrico Nawrath

Von Pablo Heras-Casado blumigen Dirigat bis Ekaterina Gubanovas brillanter Kundry, blüht, singt und triumphiert die Musik im Festspielhaus. Auf der Bühne spielt eine spannende Inszenierung von Jay Scheib… die leider von der Operninnovation des Jahres, die AR-Brillen, weitgehend verdeckt wird.

Festspielhaus Bayreuth, Bayreuther Festspiele, 24. August 2023

Parsifal
Musik und Libretto von Richard Wagner

von Peter Walter

Zum Spielzeitende darf auch ich eine der begehrten Parsifal-Brillen aufsetzen. Einmal diese neue Augmented-Reality – auf gut Deutsch auch „Erweiterte Realität“ – Technik,  die seit einem Jahr zum Dauerdiskussionsthema der Opernwelt geworden ist, ausprobieren. Die einen mögen’s, die anderen eher nicht so. Und dann gibt es die, die sich zum ExpertInnen in dieser Sache erklären, ohne je so eine Brille auf dem Kopf gehabt zu haben!

Wie auch immer, die Erweiterung der Bühne ist durchaus auch darin interessant, dass sie gefühlt mindestens 50 Prozent des szenischen Bühnengeschehens verdeckt. Während des Vorspiels schwebt  ein Baum im Festspielhaus, hinter der sich Gurnemanzens lustvolle Sündentat – eine der interessantesten Teile dieser Inszenierung – versteckt. Im ersten Aufzug kursieren dann auch Schlangen in der Gegend herum – was bitte haben die mit der Handlung oder der Inszenierung zu tun? – ehe im dritten ein Fuchs durch eine Felsenlandschaft kreist. Warum, bleibt ebenfalls unklar. Das Geschehen auf der Bühne ist jedenfalls wesentlich spannender!

Fazit zu den AR-Brillen: Eine Ergänzung der analogen Inszenierung kann ich nicht wirklich feststellen. Viele der digitalen Bilder scheinen völlig vom Himmel zu fallen und verdecken dann auch noch ein gutes Stück der sehr spannenden Bühnenregie. Um die AR-Brillen-Skeptiker zu überzeugen, wird man die Brille wohl ein wenig enger in das Gesamtkunstwerk integrieren müssen. Stand jetzt lässt sich dieser Parsifal nämlich ohne Brille wesentlich angenehmer goutieren als mit.

Kommen wir zum wichtigsten Punkt des Abends: Die Musik. Der Dirigent Pablo Heras-Casado ist mit seinem Orchester mal wieder flott unterwegs. Wie schon vor zwei Wochen. Vielleicht ein bisschen zu zügig. Aber: Diesmal bleiben die Blüten der Karfreitagszauberblumen intakt. Die Zauberakkorde des dritten Aufzugs stehen wie eine Orgelpfeife im ganzen Raum, die einzigartige Magie des Vorspiels lässt einen tief in träumerischer Schlummerei versinken.

Aus der einen Georg Zeppenfelds Ruf erweckt. Denn auch das Phantasieren über die Träume meiner schlaflosen Nächte muss irgendwann ein Ende haben. Nun also eine halbe Stunde Gurnemanz-Erzählungen… ein Traum schließt an den nächsten an. Man, was hat der momentan für einen Lauf, seine ewig makellosen Monologe untermauert er mit gestaltvollen Melodien, als würde er diese selbst dichten! Die Musik illustriert den Text, das ist die Essenz des Gesamtkunstwerks! Und so geht diese oft nimmer endende Narration auch in einem Nu vorbei. Leider.

Andreas Schager scheint sein sechswöchiger Hammerspielplan auf dem Grünen Hügel regelrecht gut getan zu haben. Zwei Siegfrieds und eine Parsifal: Die meisten Tenöre dieser Welt wären nun völlig kaputt und am Ende. Doch die Kräfte des mächtigsten Heldentenors der Welt kennen wohl keine Grenzen: Wie ein siegender Speerwerfer stürzt er sich in den bösen Bann Klingsors, stellt diesen völlig machtlos und zertrümmert mit Links seine Burg. Die nächste Disziplin heißt wahrscheinlich klangliches Kugelstoßen… aber erst muss er Amfortas’ Wunde heilen. Für diese heiligen Heldentaten gilt: Nur eine Stimme taugt!

Wie ein wehevolles Klagelied sehnen sich Derek Weltons ewige Melodien des Amfortas nach Erbarmen und Erlösung. Seine Emotionen hört man tief in seiner Stimme, seine Stimme lässt die Schmerzen im ganzen Publikum brennen. Dieser Sänger weiß mit Melodien und Musik zu sprechen! Jordan Shanahans Klingsor stellt sich mit bärenstarkem Bariton dem Toren Parsifal in den Weg, vor diesem bösen Zauberer muss man regelrecht erzittern, wenn er Kundry ans Werk verdonnert. Tobias Kehrer (Titurel) singt mit dunklem Bass aus den Tiefen seines Grabes wie ein alter Held, das muss einst ein mächtiger, weiser Herrscher gewesen sein.

Und Kundry? Auch Ekaterina Gubanova meistert ihre Rolle der Verführerin wie eine allwissende Zauberin. Mit intensiver, leicht bissiger Stimme reißt sie nicht nur Parsifal, sondern auch das ganze Publikum in ihren musikalischen Bann. Warum er letztendlich an ihr scheitert, ist völlig unklar. Denn an dieser hochdramatischen Mezzosopranstimme kommt eigentlich niemand vorbei. Sie weiß, was sie kann, lässt Parsifal stimmlich immer wieder auflaufen und spornt ihn zu neuen musikalischen Höchstleistungen an. Leider ist ihre Rolle, wie jene der spaßig singenden Zaubermädchen, viel zu kurz. Schade, dass Wagner seinen eigenen Text scheinbar sehr wortwörtlich genommen hat und die Ohren seines Publikums nur eine Stunde mit dieser Kundry verweilen lässt.

Ein strahlend singender Chor verwandelt den Festspieltempel in eine majestätische Messe wie min einem riesigen Dom der Wien- oder Mailand-Klasse… der Wagner-Gott wäre  begeistert! Leider scheint das Publikum vor lauter Begeisterung sich nicht zurückhalten zu können und klatscht  nicht nur nach dem ersten Aufzug, sondern auch noch mitten in die Schlussakkorde des dritten Aufzugs! Ein regelrechtes Gezische der erfahreneren Festspielgästen ist die Antwort… der seidene Faden, auf dem diese Musik schwebt, geriet seitens des Publikums mächtig unter Druck. Liebe Parsifal-Fans: Traut euch bitte, die Neulinge im Publikum auch schon nach dem ersten Aufzug in diese einzigartige Zauberwelt einzuweisen. Ausgezischter Applaus gehört hier dazu. Denn es gibt einfach nichts magischeres, als den Saal nach dieser atemberaubenden Abendmahlszene in schweigender Stille zu verlassen!

Peter Walter, 16. August 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Wagner, Parsifal Bayreuther Festspiele, 15. August 2023

Richard Wagner, Parsifal Bayreuther Festspiele, 12. August 2023

Richard Wagner, Parsifal Bayreuther Festspiele, 25. Juli 2023 (Eröffnung)

2 Gedanken zu „Richard Wagner, Parsifal
Bayreuther Festspiele, 24. August 2023“

  1. Ich habe durch einen gewaltigen Zufall die Fernsehübertragung gesehen. Ich wollte eigentlich keinen Wagner mehr erleben, denn ich habe insbesondere unter Barenboim in Berlin Beispielloses kennengelernt und wollte mir die Erinnerung daran nicht vermiesen.
    Kurz: ich habe es nicht bereut!
    Sänger grandios, Musiker phantastisch, der Regisseur hat offensichtlich überhaupt keine Ahnung von dem, was er da inszeniert hat.
    Und das ist sein großes Plus: Der reine Tor, allerdings nicht durch Mitleid wissend.
    Er setzt einfach den Wagner in Szene, fertig. Wer sich allerdings seine Phantasien mit dieser Brille vorphantasieren lassen will, weil er selbst über keine verfügt, ist beim Parsifal sowieso falsch.
    Ich selbst stehe, unheilbar krank, am Ende meines Lebens und durfte das Stück hier noch einmal pur erleben. Da sieht man vieles mit anderen Augen und ist dankbar, keinen Parsifal an der Börse, im Heizungskeller oder unter Wasser vorgesetzt zu bekommen. Ich durfte hier MEINEN Parsifal sehen. Danke.

    Wolfgang Schulta

  2. Spurensuche:
    Ob im Internetgestrüpp oder an der Klingel der verlassenen Wohnung; die Hoffnung stirbt zuletzt.
    M.S. Graal-Müritz

    Manfred Dr.rer.nat. Sturm

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert