Foto: Monika Rittershaus (c)
Philharmonie Berlin, 6. April 2018
Richard Wagner, Parsifal
Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle
von Kirsten Liese
Gerade eine Woche ist es her, dass ein ausgezeichneter „Parsifal“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden über die Bühne ging, da folgt schon eine weitere grandiose konzertante Aufführung dieses Werks mit den Berliner Philharmonikern in der Philharmonie.
Auf so einem hohen Niveau lässt man sich eine „Parsifalitis“ gerne gefallen. Wo sonst auf der Welt kann man das innerhalb so kurzer Zeit erleben? Was für ein Glücksfall für die Hauptstadt, aus deren Opernwelt in letzter Zeit nicht allzu viel international Beachtenswertes kam!
Das Wort grandios ist dabei noch untertrieben, der Abend der Berliner lässt sich nicht mehr toppen, er ist eine Sensation! Und das in mehrfacher Hinsicht. Außer vielleicht noch den Wiener Philharmonikern kann kein anderes Spitzenorchester derzeit eine vergleichbar exquisite Solistenriege im Blech aufbieten. Diese Klasse und Nervenstärke bewiesen die Hörner und Posaunen besonders im dritten Akt, in dem sie mit exponierten Soli stark gefordert sind. So makellos, brillant und perfekt wird man ihre Stimmen vermutlich nicht sobald wieder hören, so oft Oper spielen die Berliner schließlich nicht. Hier gelang wirklich jeder noch so heikle Ansatz, nicht der geringste Kiekser schlich sich ein. Ob sich Richard Wagner, der sich zu seiner Zeit mit einem bescheideneren Instrumentarium zufrieden geben musste, wohl beim Schreiben seiner Musik einen so vollkommenen Klang vorstellen konnte?
Darüber hinaus lief Dirigent Simon Rattle in dieser Einstudierung, die an Ostern szenisch in Baden-Baden Premiere hatte, zu einer Hochform auf, dass man ihn kaum wiedererkannte.
War das wirklich Sir Simon, der in vergangenen Jahren das klassische und spätromantische Kernrepertoire der Berliner eher weniger zu befriedigen vermochte, sich von Kritikern bisweilen nachsagen lassen musste, bei ihm töne die Musik nur laut und zu wenig beseelt?
Es scheint, als sei jetzt nun, am Ende seiner langen Ägide, doch noch der Knopf aufgesprungen, bewegt sich doch der scheidende Chefdirigent mit seinen Streichern in Pianissimo-Schattierungen, dass es einem den Atem verschlägt. Er versteht es, die Musik anzuhalten, Crescendi bis zu den großen Chorauftritten behutsam anzulegen, dass einem die Dramatik durch Mark und Bein geht, findet dazu die richtigen gemessenen Tempi und hat bei alledem die Partitur derart verinnerlicht, dass er nur selten einmal hineinschauen muss. Permanent sucht er den Blickkontakt zu Musikern und Sängern, die große Hingabe an die Musik ist bei allen Beteiligten spürbar.
Was ist geschehen? Warum nicht schon früher so?
Unweigerlich erinnert man sich an Claudio Abbados Abschied von den Berlinern, auch seine große Zeit begann erst, als er das Amt des Chefdirigenten aufgab. Ob es die wieder gewonnene Freiheit ist, die einen Künstler derart beflügelt, wenn er sich aus der verantwortungsvollen Position eines so renommierten Orchesters losgelöst hat? Ein „Musizieren unter Freunden“, wie es Abbado auf seine alten Tage in Luzern mit seinem Festivalorchester verwirklichte, scheint jedenfalls in einem Klangkörper, wo der Druck so groß ist, dass schon so mancher ältere Sologeiger- oder -bratscher aus freien Stücken zu den Tuttispielern gewechselt hat, kaum möglich.
Aber zurück zum „Parsifal“, der als eines der ergreifendsten Konzerterlebnisse in der Geschichte dieses Orchesters eingeht. Als unübertroffene Größe trug dazu der charismatische Rundfunkchor Berlin bei (Einstudierung: Simon Halsey), mit superber Deklamation und Präzision einer der besten Chöre überhaupt.
Diesem hohen Niveau entsprachen auf ganzer Linie auch die Solisten. Zwei von ihnen, Nina Stemme (Kundry) und Reinhard Hagen (Titurel), waren in denselben Rollen mit ihren großen, prächtigen Stimmen schon in der Staatsoper zu erleben.
Mit dem äußerlich recht kräftigen Stuart Skelton war hier zwar kein so jugendlicher, wendiger Titelheld an Bord wie der viel gefragte Andreas Schager an der Lindenoper, aber bis in höchste Register führt der Australier seinen profunden Tenor sicher und schlank.
Vor allem aber nehmen die drei so verschiedenen Bassbaritone für sich ein: Die mächtigste Stimme unter ihnen besitzt Evgeny Nikitin, der in seiner Interpretation auch die Furchtsamkeit des Klingsors spürbar macht. Franz-Josef Selig durchlebt seine kräftezehrende Partie des Gurnemanz souverän, stimmgewaltig, ausdrucksstark und textverständlich. Gerald Finley singt den leidgeprüften Amfortas ungemein empfindsam und kultiviert.
Weitere klangliche Finessen besorgten schließlich noch räumliche Effekte: Auf den Podiumsplätzen hinter dem Orchester positioniert sich nur der in der Musik stark präsente Männerchor, die hohen Chöre stimmen ihre leisen, jenseitigen, entfernten Gesänge wie das „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ von zwei gegenüberliegenden Emporen an. Ebenso unsichtbar für das Publikum aus der Ferne tönt auch das, vermutlich hinter der Bühne positionierte Gralsgeläut, ebenfalls dargeboten als ein Soli der Extraklasse.
Besser kann man sich wohl nach so langer Zeit nicht verabschieden. Auch an Rattles allerletzte Konzerte im Juni mit Mahlers Sechster, die er im vergangenen Jahr schon einmal so großartig bei einem Gastauftritt der Berliner bei den Osterfestspielen Salzburg leitete, darf man höchste Erwartungen stellen. Sie sind schon lange restlos ausverkauft. Man wird den Briten noch sehr vermissen.
Kirsten Liese, 7. April 2018, für
klassik-begeistert.de