Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
Andrea Battistoni dirigiert Dukas: „Der Zauberlehrling“. Tokyo Philharmonic Orchestra (2019)
von Dr. Lorenz Kerscher
Im Juni 2016 besuchte ich eine Vorstellung von La Traviata an der Bayerischen Staatsoper, um Maria Agresta live zu erleben. Diese Künstlerin schätze ich sehr, denn sie kann mit einer engelsgleichen lyrischen Sopranstimme punkten, solange sie nur kein unsensibler Dirigent zum Forcieren zwingt. Und dass es diesmal nicht so kommen würde, zeichnete sich schon ab, als der junge Maestro mit schwarzem Wuschelkopf den Taktstock hob und die Einleitung wunderbar zart erklingen ließ. Und während der ganzen Vorstellung legte er den Orchesterklang einfühlsam unter die schöne Stimme, ohne dabei auch nur eines der vielfältigen Details der Partitur untergehen zu lassen. 28 Jahre alt war der 1987 in Verona geborene Andrea Battistoni zu diesem Zeitpunkt und es war mir sofort klar, dass ich mir diesen Namen merken muss!
Dass er nicht nur feine Klanggewebe spinnen kann, sondern auch gerne mit schier unbändigem Temperament große Leidenschaft entfacht, stellte ich schnell fest, als ich in YouTube nach weiterem Material suchte. So beginnt er das Verdi-Requiem in andächtiger Stille, um dann für das Dies Irae zum „jungen Wilden“ zu mutieren und in vorantreibendem Tempo geradezu eine Höllenvision heraufzubeschwören. Mag sein, dass er hierbei etwas der Klischeevorstellung vom theatralischen Italiener entspricht, doch schon in den darauffolgenden ariosen Abschnitten ist er wieder der gefühlvolle Lyriker, der die Gesangslinien über dem Orchesterklang schweben lässt. Der sorgfältige Maestro dirigiert das umfangreiche Werk auswendig und artikuliert dabei die Chortexte deutlich mit den Lippen. Aufmerksam blickt er immer wieder zu den Solisten, um ihren Gesang exakt mit dem Orchester zu synchronisieren. Immer in engstem Kontakt mit allen Mitwirkenden überlässt er nichts dem Zufall, und es kommt bis in die kleinsten Feinheiten aller rüber, was in dem kontrastreichen Werk steckt.
Giuseppe Verdis ‚MESSA DA REQUIEM‘ –August 2021, Tokyo Philharmonic Orchestra, Andrea Battistoni
Seit dem Alter von sieben Jahren erhielt Andrea Battistoni Musikunterricht. Er studierte zunächst Cello in Verona und schloss dies 2006 ab. 2004 begann er, sich zusätzlich mit Dirigat und Komposition zu beschäftigen. Im Juni 2008 trat er bei einem Festival in Bergamo erstmals als Dirigent auf und leitete wenige Monate später, gerade 21 Jahre alt, mit La Bohème seiner erste Oper am Theater Basel. 2012 gab er als 24-Jähriger sein Debüt an der Mailänder Scala mit Le nozze di Figaro und war damit der jüngste Dirigent, der bis dato in diesem renommierten Opernhaus am Pult gestanden war. Sehr schnell wuchs dann die Liste der Wirkungsstätten, an denen er ein vielfältiges Repertoire von Opern und symphonischen Werken zur Aufführung brachte. Von 2014 bis 2016 war er Erster Gastdirigent am Teatro Carlo Felice in Genua und von 2017 bis 2019 Chefdirigent dieses Hauses. Selbstverständlich wirkte er auch schon mehrmals in der Arena seiner Heimatstadt Verona. Seit 2016 ist er Chefdirigent des Tokyo Philharmonic Orchestra, mit dem er auch auf Tourneen ging und einige CDs einspielte.
Sein Kompositionsstudium schloss er 2012 am Konservatorium von Verona mit Auszeichnung ab und schrieb seither zahlreiche Stücke für Musiktheater, Kammermusik und Orchester. Betrachtet man das Tonmaterial, mit dem er arbeitet, ist er nicht „Neutöner“ zu bezeichnen. Es ist nicht schwierig, Zugang zu seiner Tonsprache zu finden. Manches scheint mir an Ottorino Respighi anzuknüpfen, dann wieder wechselt er zu jazzigen Klängen oder arbeitet auch mit moderneren Mitteln wie z.B. harmonischen Flächen und Polytonalität. Noch fällt es mir schwer, zu beurteilen, ob sich schon ein persönlicher Stil herauskristallisiert, doch machen seine in YouTube zugänglichen Werke auf jeden Fall neugierig.
Élan vital (Rhapsodie für Orchester) von Andrea Battistoni im Teatro Carlo Felice
Ganz ohne Zweifel lohnt sich der Besuch von Aufführungen, bei denen er am Dirigentenpult steht. Feinfühlige Detailarbeit liegt ihm ebenso wie die dramatische Zuspitzung der Höhepunkte, und unter seiner umsichtigen Führung ist das Ganze auf jeden Fall viel mehr als die Summe seiner Teile. An vielen Opernhäusern von Weltrang konnte er schon wirken und Erfolge feiern, an die er weiterhin anknüpfen kann. Gerade eben, Ende 2021, dirigierte er La Traviata an der Niederländischen Nationaloper in Amsterdam und erhielt hervorragende Kritiken, die ihm ein einfühlsames Dirigat auf höchstem Niveau bescheinigen und somit den guten Eindruck bestätigen, den ich vor fünf Jahren hatte.
Das Liveerlebnis möchte ich also dringend empfehlen, doch wer es bequem haben möchte oder weitab von bedeutenden Spielstätten lebt, kann auch in Battistonis Diskografie fündig werden. Einige von ihm geleitete Aufführungen von italienischen Opern sind auf DVD erschienen, davon sind Rossinis Barbiere di Siviglia und Verdis Stiffelio auch in YouTube verfügbar. Mit dem Tokyo Philharmonic Orchestra hat er einige CDs eingespielt, wobei er gerne gängige Werke der Romantik mit zeitgenössischer Musik japanischer Komponisten kombinierte. Erwähnenswert ist auch das Arienalbum „Anima Rara (Verismo-Arien)“ der weltweit anerkannten Sopranistin Ermonela Jaho, für das er das Orchester leitete.
Schaut man in seinen aktuellen Terminplan, so steht neben seinem Wirken in Tokyo eine Produktion von Verdis Otello im Feb./März 2022 in Sidney auf dem Programm, danach Macbeth an der Bayerischen Staatsoper (worauf ich mich sehr freue) und Ende Mai Boitos Mefistofele in Melbourne. Die Möglichkeit, auf ihn zu treffen, besteht offensichtlich an allen Enden der Welt und man sollte sie nicht verpassen, wenn sie sich bietet!
Andrea Battistoni leitet sein „Angele Dei“ für Streichorchester vom Cellopult aus (2015)
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist in Youtube
Andrea Battistoni in Wikipedia
Lorenz Kerscher, 30. Dezember 2021, für
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Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.
„‘Musik ist Beziehungssache‘, so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“