Cover des 2022 erschienenen zweiten Liederalbums von Esther Valentin-Fieguth und Anastasia Grishutina
von Dr. Lorenz Kerscher
Es fing alles ganz harmlos an: die Klavierstudentin Anastasia Grishutina wollte an einem Meisterkurs für Hammerklavier teilnehmen und brauchte dafür die Mitwirkung einer Sängerin. Zunächst hatte niemand Zeit dafür, doch schließlich stellte sich Esther Valentin (die heute nach der Eheschließung mit dem angehenden Dirigenten Clemens Fieguth einen Doppelnamen trägt) als Duopartnerin zur Verfügung. Und dann verstanden sich die beiden so gut, dass sie weiter zusammenwirkten. Gemeinsam erzielten sie 2018/2019 einige schöne Wettbewerbserfolge und bekamen durch den 1. Preis beim Internationalen Schubertwettbewerb Dortmund die Gelegenheit für die Aufnahme ihrer Debüt-CD „Amors Spiel“. Unter diesem Titel konnten sie ein abwechslungsreiches Repertoire zusammenstellen und sich für zahlreiche Konzertauftritte empfehlen.
Der mythologische Amor ist ein heimtückischer Junge, der mit seinen Pfeilschüssen das Leben so mancher Menschen gründlich aus dem Takt bringt. Liebe löst leider nicht nur zärtliche Gefühle aus, sondern lässt auch Leidenschaften entbrennen, die nicht selten in kriminelle Energie umschlagen. Bei zahlreichen Liedern, die im 19. Jahrhundert für die Hausmusik wohlbehüteter Bürgermädchen geschrieben wurden, stand allerdings die Tugend hoch im Kurs und sollte eine solche Eskalation von Liebesabenteuern verhindern. Da war es schon wichtig, dass die Tochter voll Überzeugung singen konnte: „Die Ehr’ und Treue mir keiner noch nahm!“ Und sie sollte wissen, dass sie die Avancen sexhungriger junger Männer tunlichst abzuwehren hatte.
Brahms Challenge mit Esther Valentin und Anastasia Grishutina – Brahms: Vergebliches Ständchen (2020)
Was geschieht aber, wenn die Tochter die Warnungen in den Wind schlägt, wenn die Leidenschaft ihren Lauf nimmt? Darauf war die Neugier der beiden Künstlerinnen viel zu groß, als dass sie beim Besingen der Tugend stehen bleiben wollten. Sie wollten es für ihr Publikum spannender machen und fanden dafür auch reichlich Material. Da gibt es Lieder wie Schuberts Heideröslein oder Forelle, die ganz harmlos daherkommen und dabei auf sexuellen Missbrauch anspielen. Hinzu kommen Balladen, die drastisch das tödliche Ende von Beziehungen beschreiben. Schuberts „Der Zwerg“ ist als das vielleicht bekannteste Beispiel dieser Art eine Steilvorlage für eine packende Interpretation und deshalb auch ein beliebtes Wettbewerbsstück. Um eine überzeugende Interpretation dieses Dramas darzubieten, müssen die Stimme wie auch der Klavierpart die Wut des Mörders und das Leiden des Opfers in einen sehr deutlichen Kontrast setzen.
Schubert „Der Zwerg“ Esther Valentin & Anastasia Grishutina
Esther Valentin-Fieguth und Anastasia Grishutina fühlten sich da ganz in ihrem Element und bekamen Lust auf mehr, denn vor kurzem brachten sie ihr zweites Album mit dem Titel „Crime Scenes“ heraus. Darin geht es nicht nur um Beziehungstaten, denn die Welt des Verbrechens hat erschreckend viele Facetten. Man erfährt auch von dem Drama um Belsazar, der Gott lästert und danach von seinen Knechten umgebracht wird, Soldatenschicksale wie auch die Kreuzigung Jesu werden behandelt und am Ende spannt sich der Bogen bis zu den NS-Verbrechen im KZ Theresienstadt.
So haben die beiden nun ein vielseitiges Repertoire, um sich als Liedinterpretinnen zu profilieren. „Esther Valentins Mezzosopran ist von heller Farbe und jungmädchenhafter Anmut“ liest man in einer Kritik und dies trifft zweifellos zu. Sie hat keine schwere Stimme, die man als Azucena oder Dalila auf der Opernbühne hören möchte, doch umso besser sind ihre Voraussetzungen, um klassische Lieder in all ihren kammermusikalischen Feinheiten und überdies in guter Textverständlichkeit zu gestalten. Anastasia Grishutina ist inzwischen Dozentin für Liedgestaltung an der Musikhochschule Hannover und verfügt über eine exzellente Technik, die ihr selbst im feinsten Pianissimo noch eine ausdrucksvolle Gestaltung des Klavierparts mit den richtig gesetzten Akzenten erlaubt.
Strauss „Morgen“ Esther Valentin & Anastasia Grishutina (2019)
Das Publikum, das ein sich etablierendes Liedduo so nötig braucht wie die Luft zum Atmen, blieb leider wegen Corona viel zu lange ausgesperrt. So war es ein Glücksfall, dass sie von 2019 – 2022 als „SWR2 New Talent“ gefördert wurden und dadurch in zahlreichen Rundfunkübertragungen zu hören waren. Diese schwierige Phase haben sie überstanden und können nun wieder das Livepublikum begeistern, indem sie einerseits der Tradition der Liedkunst gerecht werden, aber auch so manchen alten Zopf in der Mottenkiste liegen lassen und Neues wagen. Dass sie die Strophen mancher Schubertlieder wie etwa „Des Fischers Liebensglück“ variieren, mag ihnen die Kunstliedpolizei verübeln. Doch das entspricht wahrscheinlich dem historischen Gebrauch, der auch Improvisation erlaubte. Ein unzweifelhafter Pluspunkt ist aber ihr Einsatz für zeitgenössisches Lied, insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Moritz Eggert, dem Anastasia Grishutina im März 2021 ihr Konzertexamen als Liedpianistin widmete.
Ich denke, dieses Liedduo ist mit seiner Vielseitigkeit gut aufgestellt, um dem klassischen Lied wichtige Impulse zu geben und damit neues Publikum zu gewinnen. Mit ihrer Art des Auftretens und Musizierens bieten sie auch jungen Menschen eine Identifikationsmöglichkeit, ohne dabei die alte Garde der Liedkenner zu enttäuschen. Nicht zuletzt können sie auch mit Humor bezaubern, da wirkt in „Das Echo“ das schüchterne und doch so raffinierte Anbandeln eines jungen Pärchens mit dem Einschub von Mendelssohns Hochzeitsmarsch in das Schubertlied so lebensecht, dass auch die ganz Coolen sich insgeheim darin wiederfinden können. Alles in allem bin ich sehr optimistisch, dass sie sich zu wichtigen Leistungsträgern einer Liedkunst auf der Höhe unserer Zeit entwickeln werden.
Schubert „Das Echo“ Esther Valentin & Anastasia Grishutina
Dr. Lorenz Kerscher, 16. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist von Esther Valentin in Youtube
Offizielle Webseite von Esther Valentin
Offizielle Webseite von Anastasia Grishutina
Anastasia Grishutina in Wikipedia
Rising Stars (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag
Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.
Dr. Lorenz Kerscher„‘Musik ist Beziehungssache’, so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“