Foto: © Jack De Gilio
Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
von Dr. Lorenz Kerscher
Wenn ein junger Mensch in einem musikliebenden oder sogar professionellen Umfeld aufwächst und großes Talent hat, wenn dieses von Anfang an gefördert wird und er sein Instrument von früher Kindheit an sehr fleißig übt, gelingt ihm wahrscheinlich auch ein erfolgreicher Einstieg in den Musikerberuf. Eher unerwartet kommt dies, wenn die Eltern sich überhaupt nicht mit Musik beschäftigen, sondern z. B. eine Farm betreiben, wenn die Kinder mit dem Laufen gleich auch das Reiten lernen, wenn die Kindheit vor allem ein naturverbundenes Abenteuer ist. Und doch gibt es solche Biografien und häufig sind gerade die faszinierendsten Künstlerpersönlichkeiten auf ungewöhnlichen Wegen ans Ziel gekommen.
Ganz besonders trifft das auf die Flötistin Ana de la Vega zu, deren Name schon einmal überhaupt nicht vermuten lässt, dass sie aus Australien stammt. Ihr Vater ist Argentinier, ihre Mutter Britin und die beiden bewirtschafteten eine Farm im australischen Bundesstaat New South Wales, dessen Hauptstadt Sidney ist. Pferde waren da das Wichtigste, Platz zum Austoben gab es zur Genüge, auch hatte die Mutter ein Atelier für kunsthandwerkliche Arbeiten eingerichtet. Mit drei Schwestern verbrachte Ana dort eine unbeschwerte, naturverbundene Kindheit und war als Heranwachsende auch als Turnierreiterin erfolgreich. Die Eltern interessierten sich nicht für Musik und es war purer Zufall, dass eines Tages der langsame Satz aus Mozarts Konzert für Flöte und Harfe aus dem Lautsprecher tönte, während die Kinder auf der Terrasse miteinander spielten. Von diesem Klang war die Siebenjährige wie elektrisiert und wollte unbedingt dieses Instrument spielen, obwohl sie nicht einmal wusste, wie es aussieht.
Ihre Eltern wären keine Abenteurer, wenn sie nicht die Haltung hätten, dass nichts unmöglich ist. Sie trieben ein gebrauchtes Instrument auf und fanden einen Lehrer. Dieser ließ Ana, wie sie sich erinnert, Tonleitern über drei Oktaven spielen und nahm mit der Stoppuhr die Zeit, die sie dafür brauchte. Solch seltsame Methoden taten ihrer Begeisterung aber keinen Abbruch, auch bekam sie bald besseren Unterricht und konnte schließlich in Sidney studieren. Doch das wahre Mekka der Flötenkunst identifizierte sie auf der anderen Seite des Globus, in Frankreich, von wo aus die von Theobald Böhm konzipierte moderne Form der Querflöte im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug angetreten hatte.
So gab sie das geliebte Springreiten auf und stürzte sich mit 24 Jahren in das nächste Abenteuer. Sie löste ein Flugticket nach Frankreich, kam dort mit viel zu wenig Geld und ohne Sprachkenntnisse an und wollte auf dem Pariser Konservatorium studieren. Aus dem Hotel, wo sie zunächst einzog, wurde sie hinauskomplimentiert, weil sie die anderen Gäste mit ihrem Üben störte. Eine 90-jährige Dame gab ihr Asyl und nahm sie in ihre schöne und geräumige Wohnung auf, wo sie spielen durfte, soviel sie wollte. Da die Gastgeberin noch über hundert Jahre alt wurde, entwickelte sich eine außergewöhnliche Freundschaft, die Ana auch mit französischer Kultur und Lebensart vertraut werden ließ. Am Konservatorium beschied man ihr, sie solle Französisch lernen und sich dann zur Aufnahmeprüfung anmelden. Mit Professor Raymond Guiot konnte sie übereinkommen, dass er sie darauf vorbereitete, und hatte damit schon den Fuß in der Türe. Bei diesem begann sie auch das Studium, später arbeitete sie mit Catherine Cantin, einer Schülerin des bewunderten Jean-Pierre Rampal, von dem die ersten Flötentöne stammten, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte.
Raymond Guiot erinnert sich, dass Ana de la Vegas Spiel am Anfang sehr lebhaft war, es jedoch an Struktur fehlte, an der er dann mit ihr arbeitete. Ihre Lebendigkeit entwickelte sich zu einer gesanglichen und dynamisch fein abschattierte Spielweise weiter. Ich habe das Gefühl, dass sie Ton um Ton ihre Begeisterung für das Instrument zum Ausdruck bringt, und ich kann nicht anders, als dieses Glück mitzuempfinden. So manche großen Interpreten suchen ja (manchmal recht mühsam) nach dem, was hinter den Noten steht, und bei ihr ist es, so meine ich, einfach pure und ansteckende Freude.
VIRTUAL CONCERT: Ana de la Vega, Ramón Ortega Quero, Gabriel Schwabe and Paul Rivinus
Ana de la Vegas Talent, das aus australischem Abenteuergeist geboren war, reifte in den sechs Jahren ihres Aufenthalts in Paris im Kraftfeld der französischen Hochkultur des Flötenspiels. Es bahnte sich die Zusammenarbeit mit dem English Chamber Orchestra an, mit dem sie sich als Solistin präsentieren konnte. Und doch ging es einige Jahre lang nicht so gut voran, wie sie es sich erträumt hatte. Enttäuscht vom klassischen Konzertbetrieb strebte sie schon einen Brotberuf im Musikmanagement an, doch zum Abschied wollte sie noch eine CD mit klassischen Flötenkonzerten von Mozart und Mysliveček herausbringen – mit dem bewährten English Chamber Orchestra. Diese erschien 2018 bei dem renommierten Label Pentatone und plötzlich titelten die Medien: „Ana de la Vega, geboren in Australien, gehört zu den vielversprechendsten Virtuosinnen ihren Instrumentes.“ Man hätte schon früher darauf kommen können!
Mysliveček Flötenkonzert, 2. Satz. Ana de la Vega, English Chamber Orchestra (2011)
Nach dem Erfolg ihrer Debüt-CD war dann die Zusammenarbeit mit Ramón Ortega Quero, dem Solooboisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, richtungsweisend für weitere Projekte. Mit ihm und den Trondheim Soloists entstand ein zweites Album mit frühklassischen Solokonzerten und kurz darauf wirkten beide an Einspielungen der Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach durch das Württembergische Kammerorchester mit. Auch Konzertvideos in YouTube zeugen von dem harmonischen, präzisen und ausdrucksvollen Zusammenspiel der beiden.
Und dann war die Zeit reif für das Herzensprojekt „My Paris“: zusammen mit dem Pianisten Paul Rivinius präsentierte sie 2022 ein Kaleidoskop französischer Flötenkultur. Es ist ein dankbarer Rückblick auf die Vielfalt von Stilen und Ausdrucksmöglichkeiten, die sie sich bei ihrem Studium in Paris aneignen konnte. Bekannte Namen wie Claude Debussy, Gabriel Fauré, Jules Massenet, Maurice Ravel und Eric Satie stehen hinter den eingespielten Werken, ebenso die Komponistinnen Cécile Chaminade, Maria Theresia von Paradis und Lili Boulanger. Die CD enthält zum Teil Originalkompositionen für Flöte und Klavier wie eine Sonate von Francis Poulenc und eine Romanze von Saint-Saëns, ansonsten auch Bearbeitungen etwa der Méditation aus Thaïs von Jules Massenet oder der Carmen-Suite von Georges Bizet.
Neuerliche positive Resonanz auf dieses Album ließ sie noch mehr zur gefragten Konzertsolistin werden. Und doch hat sie sich die Natürlichkeit ihrer Kindheitstage auf der australischen Farm bewahrt. So sind, wie auf Fotos und in Videos zu sehen ist, immer noch hohe Schaftstiefel die liebste Schuhmode der ehemals passionierten Reiterin. Und unter ihren langen Konzertkleidern schauen manchmal für Sekundenbruchteile die Zehenspitzen hervor. Kaum jemand im Publikum bemerkt wohl, dass sie ohne Schuhe auf dem Podium steht. So spielte sie auch in ihrer Kindheit mit ihren Schwestern barfuß, gewiss auch in dem Schlüsselmoment, als Konzert für Flöte und Harfe von Mozart aus dem Radio tönte und ihr den ersten Impuls für ihre Entwicklung gab. Diese sympathische Künstlerin, die ihre Wurzeln nicht verleugnet, steht für eine wunderbare Synthese aus Natürlichkeit und Klangkultur, eine seltene Symbiose aus Herzenswärme und Virtuosität. Und dies eröffnet ihr, so denke ich, die allerbesten Perspektiven, das Publikum zu begeistern!
Fauré’s „Pavane“ performed by Ana de la Vega
Dr. Lorenz Kerscher, 20. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weiterführende Information:
Ana de la Vega und die Flöte, Porträt und biografischer Hintergrund in Arte TV
(Video verfügbar bis Nov. 2023)
Biografisch sortierte Playlist in YouTube
Agenturprofil bei Mark Stephan Buhl Artists Management
Dr. Lorenz Kerscher
„Musik ist Beziehungssache,“ so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“
Rising Stars 44: Cristina Gómez Godoy, Oboe klassik-begeistert.de, 22. Juni 2023
Rising Stars 42: Raphaël Feuillâtre, Gitarre klassik-begeistert.de, 26. April 2023