Dieser Beitrag von Autor Dr. Charles E. Ritterband (Isle of Wight) erschien zuerst bei klassik-begeistert.de am 19. März 2020. Einen Tag später erschien er online im Feuilleton einer der wichtigsten Zeitungen der westlichen Hemnisphäre: der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Wir bringen ihn deshalb noch einmal.
https://www.nzz.ch/feuilleton/alles-virus-opern-als-therapie-und-krankheitsgeschichte-ld.1547627
Jeder von uns ist irgendwie von der Corona-Krise betroffen. Mir folgte die Virus-Welle wie ein Gespenst. Es begann damit, dass ich fünf Opern in vier italienischen Städten – Mailand, Venedig, Bologna, Turin – anschaute und für klassik-begeistert.de rezensierte. In Venedig, wo gerade der Karneval dem Höhepunkt entgegenstrebte, herrschte bei strahlendem Sonnenschein fröhliches Maskentreiben. Ich sah dort „Elisir d’Amore“ – nach meiner Abreise schloss das Teatro La Fenice die Tore. Kurz darauf war ich an der Scala, „Turco in Italia“. Hinter mir schlossen sich die Tore des weltberühmten Opernhauses. Letzte Woche war ich in der Wiener Staatsoper: „Turandot“. Es sollte die letzte Vorstellung des Hauses am Ring sein … wohl für lange Zeit.
… So haben der Hauch des Todes, die Angst und die allgemeine Ungewissheit angesichts der rasend schnellen Verbreitung des Virus einen auf den ersten Blick unerwarteten Effekt: Es verstummt nicht die Musik, es breitet sich nicht tödliche Stille über die Welt.
von Charles E. Ritterband
„Alles Walzer!“ – noch haben wir ihn im Ohr, den rituellen Ruf an jedem der zahllosen Wiener Bälle, der, nach den Darbietungen der Debütantenpaare und der Balletttänzer, die Tanzfläche für das Publikum öffnet: Mit einem Walzer, vorzugsweise dem Donauwalzer. Längst sind die Tanzparkette leer, und mit ihnen sämtliche Kultureinrichtungen der Donaumetropole und aller anderen Städte. Statt „Alles Walzer!“: „Alles Virus“.
Humor und Musik statt tödlicher Stille
Das Virus beherrscht sämtliche Medien und alle Gespräche der Mitmenschen. Es macht Angst, evoziert archaische Todesängste – aber zugleich gibt es eine Gegenreaktion: Humor, schwarzer Humor natürlich, Galgenhumor. Und: Musik. Sie erklingt als Serenade von italienischen Fenstern und Balkonen, in Wiener Hinterhöfen und von den Apartment-Hochhäusern in Tel Aviv, die zu riesigen, improvisierten Party-Schauplätzen geworden sind. Sie tönt uns aus Laptops und Fernsehgeräten entgegen – denn die großen Opernhäuser der Welt bieten jetzt tägliche, kostenlose Streaming-Programme ihrer Opernrepertoires an: eine hervorragende Idee, denn wenn schon die Menschen nun plötzlich per Gesetz gezwungen werden, zu Hause zu bleiben, soll sich dieses Zuhause zu einer von hunderttausenden, ja Millionen von Opernlogen weltweit verwandeln.
So wird einer verzweifelten Situation durch großartige Akte von Solidarität etwas äußerst Positives abgewonnen: Menschen, die sonst aus finanziellen oder anderen Gründen nicht in die Oper gehen können oder wollen, kriegen sie jetzt gratis ins Haus geliefert – und können sich mit den populärsten Werken aus dem Repertoire der führenden Häuser vertraut machen.
Umgekehrt fordern, in London zumindest, die Theater einen Akt der Solidarität vom Publikum: Dieses wird bei der Stornierung der Plätze aufgefordert, den Betrag nicht zurück zu verlangen, sondern dem Theater zu spenden. In England ist die öffentliche Kulturförderung lange nicht so großzügig wie beispielsweise in Österreich und Deutschland.
So haben der Hauch des Todes, die Angst und die allgemeine Ungewissheit angesichts der rasend schnellen Verbreitung des Virus einen auf den ersten Blick unerwarteten Effekt: Es verstummt nicht die Musik, es breitet sich nicht tödliche Stille über die Welt – ganz im Gegenteil. Es gibt mehr Musik. Und das hat Geschichte.
Die Pest und die Musik
Als in Europa im 14. Jahrhundert, vor allem in den Jahren 1348 bis 1350, die Pest wütete und gesellschaftliches Chaos nach sich zog, verstummte nicht etwa die Musik, sondern sie suchte in einer Welle der Kreativität, neue, nunmehr säkulare Formen: Rondeaus, Virelais und Balladen („ballata“ als italienische Variante der französischen Virelais) – etwa ab 1365 die populärste Form säkularen Gesangs. Vor der Kulisse des allgegenwärtigen Todes geißelten sich die einen und bereuten ihre Sünden – andere wandten sich diesen umso mehr zu: Vor allem junge Menschen zogen sich in verlassene Häuser zurück und feierten wilde Feste. 1349, auf dem ersten Höhepunkt der Pandemie, verfasste Bocacchio sein berühmtes „Decamerone“. Und natürlich spielte die Musik bei diesen spontanen Partys genauso wie heute eine zentrale Rolle.
Alexander Puschkin – der ja auch das Buch „Eugen Onegin“ schrieb, welches der gleichnamigen Oper zugrunde liegt – veröffentlichte im Jahr 1900 das Libretto zu der heute völlig unbekannten, einaktigen Oper „Das Gelage in der Zeit der Pest“, welche im London des Pestjahres 1665 spielt (Musik vom litauischen Komponisten Cesar Cui, 1835 – 1918) . Sie weist den üblichen Katalog von Sängerinnen und Sängern auf: Tenor, Bariton, Bass, Mezzo, Sopran – und „a negro“ als stumme Rolle…
Der Tod in Venedig
In fast jeder Oper geht es um Liebe und Tod. Ein stärkerer Kontrast ist nicht denkbar. Und das Kunstwerk lebt von Kontrasten: hell – dunkel, Liebe und Tod. Und dieser Tod ist zwar meist die Wirkung von Gift oder der Messerstich, der Schwerthieb, die Pistolenkugel des jeweiligen Rivalen, der um dieselbe Frau kämpft. Aber nicht selten ist es der Tod, der von einer Krankheit kommt – und manchmal ist diese Erkrankung das Resultat einer Seuche.
Das stärkste Beispiel ist zweifellos Benjamin Brittens großartige Oper „Death in Venice“, äußerst werkgetreu beruhend auf Thomas Manns meisterhafter Novelle „Der Tod in Venedig“ (1911). Ich hatte das immense Vergnügen, letzten November eine phänomenale Inszenierung (Regie: David McVicar) am Londoner Royal Opera House Covent Garden zu erleben, die sich visuell ihrerseits an ein Meisterwerk anlehnte: Luchino Viscontis „Morte a Venezia“ (Dirk Bogarde als Aschenbach,1971). Brittens Oper erlebte nur zwei Jahre später, im Oktober 1973, in eben diesem Haus, der Royal Opera, ihre triumphale Uraufführung.
In „Tod in Venedig“ / „Death in Venice“ wird Venedig von einer gespenstischen Seuche befallen: Der „asiatischen Cholera“. Sie ist vorerst unsichtbar, doch nach und nach werden die Menschen von ihr befallen. Das Hotelpersonal und die Reisebüro-Agenten streiten alles ab, aber der dünne Schleier der Lüge zerreißt immer mehr. Gustav von Aschenbach, der tragische Held der Erzählung, stirbt offensichtlich auch an der Cholera.
Benjamin Britten stirbt drei Jahre nach der Uraufführung, aber bereits bei der Premiere in Covent Garden war der Komponist schwer krank. Ironie des Schicksals: Ursache dieser Krankheit war ein folgenreicher Virus – der ihn schon bei seinem Besuch 1968 in Venedig befallen hatte.
Der Vorname des Protagonisten, Gustav, war eine Hommage an Gustav Mahler, den Thomas Mann verehrte. Visconti verwendete sehr bewusst das berühmte Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie als Filmmusik. Eine sensiblere Musik vor der Kulisse Venedigs ist schlichtweg undenkbar. Thomas Mann erfuhr von Gustav Mahlers Tod auf der Insel Brioni – der letzten Station vor seiner Weiterreise nach Venedig: Tod in Venedig war kein Zufall.
Thema der Novelle und des Films ist die unerfüllte Liebe Aschenbachs für den jungen polnischen Adligen „Tadzio“. Thomas Mann, der ebenso wie seine literarische Figur Aschenbach im Hotel des Bains am Lido abgestiegen war, begegnete dort (laut Aussagen von seiner Frau Katia) tatsächlich jener polnischen Familie, doch Tadzio hieß eigentlich Wladyslaw, also Wlazio oder Adzio: Thomas Mann hatte sich offenbar verhört.
Für Aschenbach – das kommt in der Inszenierung der Oper hervorragend zum Ausdruck – ist dieser Tadzio ein Mensch gewordener griechischer Gott, die Verkörperung absoluter Schönheit. Er kann mit ihm nicht sprechen, denn sie haben keine gemeinsame Sprache; er hat die Illusion, dass er durch seinen Blick mit dem knabenhaften jungen Mann vereint werden kann. Die homosexuelle Liebe hat biographische Ursprünge: Der 14 Jahre alte Thomas Mann hatte sich in einen Gleichaltrigen namens Armin Martens verliebt. Und Visconti war dem italienischen Regisseur Franco Zefirelli verbunden.
Die Titelfigur stirbt an Tuberkulose
Nicht nur die Cholera figuriert in Opern – auch die Syphilis und sogar Aids („Angels in America“, Oper in zwei Teilen von Péter Eötvös). Tuberkulose rafft Mimi (Lucia) in“ La Bohème“ hin, und ihr erliegt die Lebedame Violetta Valéry (La Traviata). Sie hieß in Wirklichkeit Marie Duplessis und starb im Januar 1847 in ihrer letzten Wohnung, am Boulevard de la Madeleine 11 in Paris an der „Schwindsucht“, wie damals die Tuberkulose genannt wurde.
Die Nähe zur Kirche mit dem assoziationsreichen Namen Sainte-Marie-Madeleine war eine Ironie des Schicksals. Alexandre Dumas schrieb „La Dame aux Camélias“ ein Jahr nach Duplessis‘ Tod. Sie war seine Geliebte. Auch hier, nicht nur im Tod und Venedig, schließen sich die Kreise von Werk und Biographie des Autors.
Verdi, der, wie Proust einst bemerkte, mit seiner „La Traviata“ die „Dame aux Camélias“ erst zum Kunstwerk machte, gab Violetta einen der berühmtesten Walzer (das Trinklied „Libiamone‘ lieti calici“) als musikalische Kennmelodie mit auf ihren tragischen Weg. Der damals als der letzte Schrei aufgekommene Walzer war im Paris des 19. Jahrhunderts so populär, dass er nicht nur als moralisch verwerflich und riskant empfunden wurde – sondern, wohl nicht ganz abwegig, wegen der physischen Nähe der Paare als Infektionsquelle für die Tuberkulose.
Die Übertragung erfolgte bekanntlich durch Tröpfcheninfektion – beispielsweise durch Husten. Die Parallelen zum Corona-Virus sind offensichtlich. „La Traviata“ und „La Bohème“, bis vor kurzem noch als romantisch-tragischer Blick in eine längst vergangene, überwundene Vergangenheit empfunden, wird jetzt plötzlich wieder hochaktuell!
Jeder von uns ist irgendwie von der Corona-Krise betroffen. Mir folgte die Virus-Welle wie ein Gespenst. Es begann damit, dass ich fünf Opern in vier italienischen Städten – Mailand, Venedig, Bologna, Turin – anschaute und für klassigk-begeistert.de rezensierte. In Venedig, wo gerade der Karneval dem Höhepunkt entgegenstrebte, herrschte bei strahlendem Sonnenschein fröhliches Maskentreiben. Ich sah dort „Elisir d’Amore“ – nach meiner Abreise schloss das Teatro della Fenice die Tore. Kurz darauf war ich an der Scala, „Turco in Italia“. Hinter mir schlossen sich die Tore des weltberühmten Opernhauses. Letzte Woche war ich in der Wiener Staatsoper: „Turandot“. Es sollte die letzte Vorstellung des Hauses am Ring sein … wohl für lange Zeit.
Dr. Charles E. Ritterband, 19. März 2020, für
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Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 67, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.