Großer Saal des Moskauer Konservatoriums, 12. März 2020
Russisches Nationalorchester
Dirigent, Lio Kuokman
Violine, Haik Kazazyan
Cello, Alexander Ramm
Johannes Brahms
Tragische Ouvertüre d-Moll op. 81
Doppelkonzert für Violine und Cello op. 102
Camille Saint-Saens
Cellokonzert Nr. 1 a-Moll op. 33
Edvard Elgar, Cellokonzert e-Moll op. 85
Moskauer Konzertsaal Sarjadje, 13. März 2020
Nationales Philharmonisches Orchester Russlands
Dirigent, Wladimir Spiwakow
Klavier, Konstantin Emelyanow
Sergei Prokofjew, Klavierkonzert Nr. 3 C-dur op. 26
Pjotr Tschaikowsky, Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia
Sergei Prokofjew, Ausschnitte aus dem Ballett „Romeo und Julia“ op. 64
Foto: Copyright meloman.ru –
Der Konzertsaal Sarjadje im Zentrum Moskaus
von Lukas Baake
Auch in Moskau ist der letzte Ton nun vorerst verklungen. Opernhäuser, Museen und Universitäten sind geschlossen, das Leben kommt auch hier langsam zum Stillstand. Doch bis Mitte letzter Woche, während über Liveticker die sich immer mehr beschleunigenden Ereignisse aus Deutschland, Italien und Frankreich eintrafen, herrschte in der russischen Hauptstadt noch Normalität: Die Metro war voll wie immer, die Restaurants waren gut besucht, und auch die Musik war noch zu hören. Mit Blick auf die Entwicklungen in Europa, sich schließende Grenzen und immer weniger Flüge, entschied ich mich trotz der scheinbaren Normalität dafür, der Stadt früher als geplant den Rücken zu kehren. Kurz zuvor besuchte ich noch zwei Konzerte und hatte, ohne es vorher zu ahnen, somit das Glück einige der letzten Konzerte in der Stadt zu erleben. Nach meiner überstürzten Abreise und dem Versuch, mich mit der neuen Situation zu arrangieren, nutze ich nun die Möglichkeit, meine Notizen und Impressionen zu sammeln.
Das Moskauer Konservatorium ist ein besonderer Ort: Kaum ein anderer ist so sehr mit der russischen Musikgeschichte – von Tschaikowsky über Rachmaninow bis Rostropowitsch – verbunden wie die 1866 gegründete Ausbildungsstätte. Nach wie vor werden hier die Musiker des Landes ausgebildet, die weltweit als Solisten und Orchestermusiker tätig sind. Diese ehrwürdige Tradition spürt man auch in der Haltung des Publikums, das andächtig und ehrfürchtig zuhört. Zugleich kann man hier den Stolz und die nicht zu verkennende Arroganz des Moskauer Bildungsbürgertums beobachten, das sich im Zentrum des kulturellen Geschehens ihres Landes weiß.
Charakteristisch für den Großen Saal des Konservatoriums sind die großformatigen, an den Wänden hängenden Porträts der großen Komponisten der Musikgeschichte. Auch wenn hier die bedeutenden Namen der deutschen (Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, Wagner) und der russischen Musikgeschichte (Glinka, Tschaikowsky, Mussorgski, Borodin, Rimski-Korsakow, Rubinstein) versammelt sind, fehlt ein Komponist, der im Zentrum der ersten Konzerthälfte stand: Johannes Brahms.
Den Anfang machte die Tragische Ouvertüre, kraftvoll und entschlossen vorgetragen. Der noch junge Dirigent Li Kuokman, der an diesem Abend das Russische Nationalorchester leitete, wirkte ungemein agil und dynamisch. Dieser Eindruck bestätigte sich beim Doppelkonzert von Brahms mit dem Violinisten Haik Kazazyan und Alexander Ramm am Cello. Beide Solisten hatten als Absolventen des Konservatoriums einen Heimvorteil und waren schnell als Publikumslieblinge auszumachen. Vom mächtig auftrumpfenden, breit angelegten Kopfsatz an zeigte sich die Intensität und Leidenschaft, mit der die im idealen Dialog stehenden Solisten und Dirigent musizierten.
Nach dem begeisterten Applaus, gehörte die Bühne ganz dem Cello. Alexander Ramm spielte die Konzerte von Saint-Saens und Elgar, große und wichtige Werke des Repertoires. Während das rhythmisch bewegte und lebendige Konzert des französischen Komponisten routiniert heruntergespielt wurde, war die Interpretation von Elgars melancholischem und von ernsthafter Trauer geprägtem Werk das Glanzstück des Abends. Das Stück, 1919 uraufgeführt, ist das letzte vollendete Werk des englischen Komponisten, der kurz darauf in eine tiefe Schaffenskrise fiel. Im stetigen Austausch mit Dirigent und Orchestermusikern, vermochte es Ramm die Atmosphäre des Stückes zwischen Resignation und Neuanfang zu intonieren. Ohne es zu ahnen, nahm er so ein Gefühl vorweg, dass sich auch bald über die russische Hauptstadt legen sollte.
Am nächsten Abend ging es in den neuen Konzertsaal am Sarjadje-Park, unweit des Roten Platzes. Während der große Saal des Konservatoriums von altem Holz und schwachem Licht geprägt ist und noch so wirkt wie in den ersten Jahren, ist die erst vor zwei Jahren eröffnete Konzerthalle Sarjadje ein Glanzstück der zeitgenössischen Konzertsaalarchitektur. Dabei erinnern Form und Proportionen an ähnliche Neubauten in Hamburg oder Paris.
Während am Vorabend von Krankheiten und Katastrophen noch nichts zu spüren war, fiel hier die erhöhte Anzahl von Schutzmasken auf. Die Meldungen aus dem Rest der Welt schienen doch nicht spurlos an den Moskauern vorbeigegangen zu sein. Dies änderte jedoch nichts an einem triumphalen Abend für Wladimir Spiwakow, vielleicht neben Gergijew der beliebteste Dirigent des Landes. Mit seinen Musikern vom Nationalen Philharmonischen Orchester gelang es ihm, ausnahmslos jeden Zuhörer mit einem ganz und gar „russischen“ Programm für sich einzunehmen.
Dabei standen zwei Namen im Vordergrund: Prokofjew und Tschaikowsky. Den Beginn machte das leicht bekömmliche 3. Klavierkonzert von Prokofjew, mit dem 25-jährigen Konstantin Emelyanow als Solisten, dessen Karriere seit dem Erfolg bei dem Tschaikowsky-Wettbewerb im vergangenen Jahr gerade erst begonnen hat. Nach anfänglicher Nervosität des Solisten, die vor allem im ergreifend schön von der Klarinette eingeleiteten ersten Satz sichtbar wurde, konnte sich der junge Musiker im Andantino des Variationssatzes beweisen, ehe er im dritten Satz die technische Brillanz und Farbvielfalt seines Klavierspiels demonstrieren konnte.
Die ganze Klasse Spiwakows als feinfühliger und hochengagierter Maestro zeigte sich in der zweiten Hälfte: Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“ sowie Ausschnitte des gleichnamigen Balletts von Prokofjew lagen Musikern und Dirigent gleichermaßen und riefen wahre Wellen der Begeisterung beim Publikum hervor. Dabei ist vor allem die Darbietung von Prokofjews Werk hervorzuheben, das am Ende des Konzertabends stand: Brachiale Tutti-Stellen mit dominierendem Blech ließen den Atem stocken, während die immer wiederkehrenden, himmlisch schönen, lyrischen Melodien von Streichern und Holzbläsern in die Weite des Saales getragen wurden. Dies war existenzielles Musizieren am Rande des Möglichen. Im Nachhinein entsteht der Eindruck, dass die Musiker wussten, dass dies eines ihrer vorerst letzten Konzerte sein würde. Das Publikum spürte diesen Einsatz und goutierte die Leistung aller Beteiligten nach Verklingen des letzten Tones mit einem nicht enden wollenden Applaus.
Kein Zuhörer konnte ahnen, dass die Konzertsäle und Opernhäuser der Stadt bereits eine Woche später auf unbestimmte Zeit leer bleiben würden. Damit ist dem Konzertgänger in Moskau das widerfahren, was seine Gleichgesinnten bereits einige Zeit vorher in Paris, Wien, Berlin oder Mailand erleben mussten. Was bleibt, sind die Erinnerungen an ein berückendes Musikerlebnis, das als solches auch in Russland vorerst Teil einer Welt von gestern ist.
Lukas Baake, 23. März 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at