„Einmal besuchte eine musikalische Gruppe – ein Chor – das Herrenhaus. Als sie im „Carved Room“ Purcells geschnitzte Partitur entdeckten, nahmen die Sänger Aufstellung – und sangen die „Fairy Queen“ vom Blatt der vom niederländischen Künstler Gibbons in Lindenholz verewigten Purcell-Partitur.“
von Charles E. Ritterband
Vor einigen Wochen, als man noch reisen konnte, fuhr ich in die englische Grafschaft West Sussex und besuchte das mächtige, der prunkvollen Architektur von Versailles nacheifernde Schloss Petworth House aus dem späten 17. Jahrhundert: Weit über die Grenzen Großbritanniens hinaus berühmt wegen seiner einmaligen Gemälde- und Skulpturensammlung. Diese, im „Goldenen Zeitalter“ des Schlosses 1774 – 1779 zusammengetragen von dem Eigentümer und ambitiösen Kunstmäzen, dem 3. Earl of Egremont, wirkt auf den heutigen Besucher allerdings weniger ästhetisch als vielmehr wegen ihrer gewaltigen Fülle und Dichte geradezu beängstigend – man will am ehesten sofort die Flucht ergreifen. Doch die hier an der Wand hängenden Gemälde und die mit Minimalabstand aufgestellten Skulpturen sind, für sich genommen, einzigartig. Der 3. Earl hatte nicht nur eine Unmenge Kunstwerke angehäuft – sondern auch unzählige Mätressen, von denen er nicht weniger als 43 Kinder hatte…
Ein „Haus der Künste“
Die Maler Constable und Turner, hier vielfach repräsentiert (allein Turner, dem der kunstsinnige Earl hier ein Studio eingerichtet hatte, mit 20 Gemälden), sind nur zwei der großen englischen Künstler, aber wohl die berühmtesten, die hier vertreten sind. Constable nannte das Schloss, in dem er als Gast ein- und ausging, bewundernd „Haus der Künste“ – wobei man sich vor Augen halten muss, dass es damals noch keine öffentlich zugänglichen Kunstmuseen gab. Das Herrenhaus ist übrigens nur teilweise ein Museum, es ist nach wie vor Wohnhaus des 3. Barons Leconfield. Der National Trust, in dessen Besitz das Schloss (aufgrund der exorbitanten Erbschaftssteuern beim Übergang von einer Generation zur nächsten) steht, räumte seinem Vorgänger unbegrenztes Wohnrecht im Obergeschoss des riesigen, altertümlichen Baus ein. In England lebt die Vergangenheit weiter – in jeder Beziehung.
Jeweils im August – in normalen Zeiten – werden hier Barock-Konzerte abgehalten, welche das hoch kultivierte Ambiente des 17. Jahrhunderts und des kulturbeflissenen Erbauers aufleben lassen. Doch jetzt, im Spätherbst, der die Bäume im berühmten Landschaftsgarten mit spektakulären Farben übergossen hatte, richtete ich meine besondere Aufmerksamkeit auf einen anderen, allerdings einzigartigen musikalischen Aspekt dieses Schlosses, der den meisten Besuchern entgehen dürfte.
Aus dem „Goldenen Zeitalter“ der Niederlande
Trotz der vielen Kunstschätze steuerte ich, der ich die Schnitzkunst besonders verehre, geradezu zielsicher auf den Speisesaal zu (mit gutem Grund als „Carved Room“ bezeichnet) – mit den phänomenalen Werken des Schnitzers Grinling Gibbons. Dieser hatte zwar englische Eltern, wurde aber in Rotterdam geboren und erlernte dort 1660 im Alter von 19 Jahren die Schnitzkunst – inmitten des legendären „Goldenen Zeitalters“ der Niederlande als Handelsmacht und nie dagewesener künstlerischer Errungenschaften.
Gibbons kam als hervorragend ausgebildeter Schnitzkünstler nach England und hatte sich bereits mit der Ausgestaltung der Bibliothek des Trinity College in Cambridge, Hampton Court Castle und Kensington Palace bewährt. Man kann durchaus mit Fug und Recht sagen, dass sich in diesem Raum die Krönung seines Schaffens befindet.
Loyalitätsbekundung für „William of Orange“
Inmitten der dreidimensionalen, geradezu frappierend realistischen Darstellungen von Speisen wie Hummern und Früchten – die passendsten Motive für einen Speisesaal – war es die perfekte Darstellung von verschiedenen zeitgenössischen Musikinstrumenten, welche meine Aufmerksamkeit erregte. Dazwischen aufgeschlagene Notenblätter. Auf diesen sind Noten zu sehen, aber nicht irgendwelche dekorativ und willkürlich angebrachten Noten – diese können präzise zugeordnet werden: Es sind die Noten zu Henry Purcells berühmter „Fairy Queen“.
Wenn man die Wahl dieses Stückes interpretiert, so stößt man auf ein wichtiges Faktum: die „Fairy Queen“ war nicht nur irgendein Musikstück – es war eine Huldigung an den Herrscher, geschrieben aus Anlass des 15. Hochzeitstags von König William III („William of Orange“ – Oranien) und Queen Mary: Eine Huldigung des Schnitzers an seinen obersten Auftraggeber, den König und zugleich eine Loyalitätserklärung des Schlossherrn an den Herrscher – damals ein nicht unwichtiger politischer Schachzug für den Herzog als einem der mächtigsten Aristokraten des Landes. Übrigens spielt der protestantische Herrscher William of Orange wegen seines Siegs in der Schlacht an der Boyne (1690) als Symbolfigur für die nordirischen Unionisten („Orangemen“) eine zentrale Rolle.
Doch zurück zum Schloss Petworth House. Die Aufseherin wies auf die ungewöhnliche Hängung der vielen Turner-Gemälde im Speisesaal bzw. „Carved Room“ hin: Alle auf Sitzhöhe. Und damit hatte es seine Bewandtnis. Die vornehmeren Gäste wurden auf jene Seite der langen Tafel gesetzt, die Blick auf die Fenster und damit den herrlichen Landschaftsgarten hatten. Die weniger privilegierten wurden ihnen gegenüber placiert – und gleichsam zum Trost hatten sie die Turner-Gemälde vor Augen…
Doch die Aufseherin hatte eine weitere köstliche Anekdote parat: Einmal besuchte eine musikalische Gruppe – ein Chor – das Herrenhaus. Als sie im „Carved Room“ Purcells geschnitzte Partitur entdeckten, nahmen die Sänger Aufstellung – und sangen die „Fairy Queen“ vom Blatt der vom niederländischen Künstler Gibbons in Lindenholz verewigten Purcell-Partitur.
Charles E. Ritterband, 7. Februar 2021, für
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Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 67, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur“, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.