von Charles E. Ritterband
Meine Tochter heißt Salome. Alle drei Kinder tragen Namen aus der Welt der Oper: Salome, Orfeo, Ulisse. Doch die ganz besondere Ehre gebührt Salome, als der ersten.
Oft werde ich gefragt, welche denn meine Lieblingsoper sei – unter den vielen herrlichen Werken, in denen ich so oft schwelge, von deren Aufführung ich schwärme (oder, mitunter, entsetzt bin). Zugegeben – Salome ist vielleicht nicht gerade meine Lieblingsoper. Aber es ist ganz entschieden das Werk, das mich unter allen Opern am meisten fasziniert. Dies ist das kompakteste, expressivste Werk der gesamten Opernliteratur. Das Thema ist zeitlos (siehe #Me.Too): der in der Welt der griechischen Sagen immer wieder vorkommende Topos der unendlich schönen, begehrten, missbrauchten jungen Frau (die Oper geht vom ersten Satz an direkt zur Sache: Narraboth –“Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht“ – eine vergleichbare Direktheit, die uns, sobald sich der Vorhang hebt unmittelbar in die Handlung hineinreißt gibt es sonst nur bei Verdis „Othello“). Die fein ausgearbeitete, des Humors nicht entbehrende psychologische Dimension (das Dreiecksverhältnis Salome-Herodias-Herodes, die verwöhnte Mädchen aus reichem, mächtigen Haus, das alles haben kann, aber nur das Eine will, das ihr verboten ist. Und die erwachende, noch ziellos herumirrende Sexualität der jungen Mädchen, die sich auf dieses völlig andere, faszinierende, verbotene fokussiert: Den Propheten im Kerker.
Diese Oper ist musikalisch so genial, wie ein Werk nur sein kann. Sich nahezu mysteriös vermischende und dann wieder auflösende Spalt- und Mischklänge, die komplexe, ja explosive Gegenüberstellung von höchster, ja geradezu ekstatisch jubelnder Harmonie mit schmerzhaften Dissonanzen, die sinfonisch streng durchorganisierten und zum Singen verteufelt schwierigen Leitmotive der Prinzessin Salome, die Gegenüberstellung der Klarheit und Reinheit der Prophezeiungen und Erzählungen über Jesus im As-Dur des Jochanaan, die bitonalen Spaltungen zwischen d-Moll und es-Moll im Fugato des (inhaltlich übrigens höchst interessanten) theologischen Disputs „der“ angesichts der Herausforderung dieses Propheten, das Szintillieren zwischen As-Dur und A-Dur beim entsetzten Ausruf des Herodes („ich verbiete, ihm, die Toten zu erwecken“).
Hier äußert sich der profunde Humor inmitten der sonst so unfassbar blutigen Handlung: Herodes hat nicht befohlen, dass sie der Hauptmann umbringt und er verbietet Jesus, Wunder zu wirken – er hat die Grenzen seiner weltlichen Macht nicht kapiert, er mag totalitär über seine Welt herrschen, aber er kann weder über Gefühle (Salome, Narraboth) befehlen noch dem wundertätigen Propheten Jesus verbieten, Wunder zu tun. Es gibt Sphären, die seiner Macht entzogen sind – und dies relativiert auf faszinierende Weise die Grenzen weltlicher Macht. Und, um den Gedanken weiter zu spinnen: Dies ist auch der Grund, weshalb die totalitären Diktaturen am Ende scheitern müssen, die mächtigen Reiche bei aller machtpolitischen Absicherung früher oder später untergehen. Weil Macht auf Grenzen stößt, die in einer anderen Dimension liegen.
Faszinierend die Darstellung der Naturgewalten in Text und Musik: Die dominante Metapher des Mondes und der apokalyptische Wind. Gleich zu Anfang vergleicht der Page die Mondscheibe (!) mit einer „Frau die aufsteigt aus dem Grab“. Später der großartige, humorvoll ausgearbeitete Kontrast zwischen der Wahrnehmung des Herodes – angsterfüllt, abergläubisch. Herodes: „Wie der Mond heute nach aussieht ! (…) Er sieht aus wie ein wahnwitziges Weib, das überall nach Buhlen sucht.. wie ein betrunkenes Weib, das überall nach Buhlen sucht…wie ein betrunkenes Weib, das durch Wolken taumelt..“ Dem setzt die Herodias kalt und nüchtern entgegen: „Nein, der Mond ist wie der Mond, das ist alles.“ Und später – Herodes: „Es ist kalt hier. Es weht ein Wind…Weht nicht ein Wind?“ Herodias (Regieanweisung: „trocken“): „Nein, es weht kein Wind.“ Und in der Luft höre ich etwas wie das Rauschen von mächtigen Flügeln…Hört ihr es nicht?“ Herodias: „Ich höre nichts“. Und irgendwann stellt sie ironisch fest: „Oho ! Ich glaube nicht an Wunder. Ich habe ihrer zu viele gesehen“. Einfach großartig, unübertrefflich dieser Text in seiner lakonischen Klarheit und seinem feinen bis sarkastisch überhöhten Humor.
Von diesen scharfen, fast unerträglich kontrastreichen Spannungen lebt diese fantastische Oper: Der lüsterne, abergläubische, aber für metaphysisch-übersinnliche Naturphänomene (Mond, Wind) durchaus sensible Herrscher und seine rationale, nüchterne kalt berechnende Gattin (die sich sofort den Schmuck holen lässt, den Herodes Salome verspricht und den er der Ehefrau vorenthalten hat). Der reine, von glasklaren Visionen beherrschte Prophet und der schwärmerische Teenager, Salome, die ausschließlich die übermächtig erwachende Sexualität treibt, die (kein Wunder bei diesem Milieu, in dem sie aufwächst), keinerlei moralische Massstäbe und Skrupel kennt. Die Juden, die nur in ihren theologischen Disputen gefangen sind und sich für nichts anderes interessieren und Narraboth, dessen reine Liebe für die völlig unerreichbare Salome hart kontrastiert und doch zugleich parallel gesetzt ist mit ihrem Begehren für ein genauso unerreichbares Objekt: Jochanaan. Und, wie raffiniert, beide unmöglichen Begehren enden mit dem Tod: Der ohnmächtige Hauptmann bringt sich und Salome, ausgestattet mit der Allmacht der Herrschertochter, bringt das Objekt ihres Begehrens um – und wird am Ende selbst umgebracht, wie jener unglücklich in sie verliebte Hauptmann. Liebe, weltliche Macht, religiöse Visionen, Ohnmacht und Tod, Korrumpiertheit, Reinheit, lüsterne Blicke und ungestillte sexuelle Begierde – das sind übertreffbar starke Elemente. Erfüllt von biblischer Kraft. Sämtlich in dieser einen Oper vereint.
„Die Juden“. Ich stoße mich schon an dieser Bezeichnung, die penetrant nach Pauschalisierung riecht – und wohin das führt, wissen wir ja ganz genau. Irgendwann im Text werden „die Juden“ als „wilde Tiere“. Da fällt einem allerdings unweigerlich ein, dass Richard Strauss sich dafür hergab, als Präsident der NS-Reichsmusikkammer zu fungieren (er wurde allerdings wegen seiner Kommunikation mit Stefan Zweig von der Gestapo zum Rücktritt gezwungen), komponierte anlässlich der nazipropagandistischen Olympischen Sommerspiele 1936 die Eröffnungsmusik – und widmete dem mörderischen NS-Kriegsverbrecher, dem Generalgouverneur des besetzten Polen, Hans Frank, am 3. November 1943 ein Loblied, zu dem er auch den Text schrieb. Von Hitler wurde er im August 1944 auf die „Gottbegnadeten-Liste“ und die Liste mit den drei wichtigsten Musikern des Deutschen Reiches gesetzt. Ein karrieristischer Pakt mit dem Teufel. Das ist nicht nur ein dunkler Schatten, der über dem Haupt dieses genialen Komponisten lastet – es ist eigentlich moralisch unverzeihbar und sollte niemals vergessen werden.
In diesem Zusammenhang fällt mir eine köstliche Anekdote ein: Ein Sänger beklagte sich beim Dirigenten, dass diese oder jene Passage seiner Meinung nach falsch – zu rasch – gespielt werde. Als Begründung gab er an, dass er einst in dieser Oper mitgesungen hatte: „Ich war Jude“. Worauf der Dirigent antwortete: „Und ich bin immer noch Jude und kann Ihnen versichern, dass das Tempo stimmt.“
Kein Zweifel: Diese Oper ist schlichtweg genial. Anders kann man das nicht nennen. Keine Note zu viel oder zu wenig; der Text, poetisch, faszinierend, glasklar, intelligent – und humorvoll. Die Story hält den Zuschauer in Atem, die Musik erschreckt, erschüttert – und (Salomes Tanz) setzt sinnliche Begierden frei. Dass Alma Mahler nur Schmähungen für dieses große Werk übrig hatte spricht gegen sie und nicht gegen das Werk. Dass der Musikkritiker der New York Times „Salome“ als „a moral stench in the nostrils of humanity“ (moralischer Gestank in den Nasenlöchern der Menschheit) bezeichnete, machte das Publikum nur noch neugieriger. Nach der österreichischen Erstaufführung in Graz (am 9. Dezember 1905), an der Richard Strauss persönlich dirigierte und nebst Größen der Musikwelt wie Puccini, Schönberg, Alban Berg, Zemlinsky auch Gustav und Alma Mahler im Zuschauerraum der Grazer Oper saßen, schrieb der Kritiker Wilhelm Kienzl, dieses Werk sei „die Ausgeburt der Phantasie einer sexuell perversen Natur“.
Naheliegenderweise scheiterte der Versuch Gustav Mahlers, das Werk gleichzeitig an der von ihm geleiteten Wiener Hofoper aufzuführen, an der gestrengen Zensur wegen der „die Sittlichkeit beleidigenden Handlung“. Doch „Salome“ wurde – oder vielleicht wegen – seiner Skandalträchtigkeit zum (auch finanziellen) Großerfolg.
Zurück zu „meiner“ Salome, meiner Tochter: Ihr Name war ein bisschen schicksalshaft, denn sie entfaltete alsbald bedeutende tänzerische Neigungen und Begabungen. Ja, sie plante sogar, eine professionelle, klassische Ballett-Ausbildung in der Opernschule der Wiener Staatsoper auf sich zu nehmen. Und angesichts der inzwischen bekannt gewordenen Zustände dort ist es ein großes Glück, dass sie abgewiesen wurde. Traurig fädelte sie ihre Ballettschuhe an einem Faden auf und hängte sie an die Zimmerdecke – ein ritueller Abschied von einem Traum. Blieb noch die Hoffnung, dass sie nie einem Johannes, Hans oder John begegnen würde. Tatsächlich beginnt der Vorname ihres Lebenspartners mit einem „J“ – aber Johannes heißt er nicht.
Charles Ritterband, 26. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Langes Klassikwelt erscheint jeden zweiten Dienstag
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Lieses Klassikwelt (c) erscheint jeden Freitag.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Posers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 66, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.