Foto: Gertraud Cerha im Gespräch mit Nikolaus Urbanek. © Arnold Schönberg Center
Das Arnold Schönberg Center feierte den 99. Geburtstag von Friedrich Cerha mit Werken aus der Zeit von 1946 bis 2018, darunter eine Uraufführung.
Demetrius Polyzoides, Violine
Harald Hieronymus Hein, Gesang
Janna Polyzoides, Klavier
Arnold Schönberg Center, Wien, 11. März 2025
von Dr. Rudi Frühwirth
Vor der Weltpremiere der von Friedrich Cerha fertigkomponierten Oper Lulu, die ich in Paris miterleben durfte, wußte ich nur wenig über ihn und kannte auch seine Musik kaum. Dann kam Cerhas großartige Oper Baal nach Bertolt Brecht mit dem unvergesslichen Theo Adam in der Titelrolle in die Wiener Staatsoper, ich hörte die Spiegel im Musikverein, und langsam wurde mir die überragende Bedeutung dieses großen Komponisten klar.
Am 17. Februar dieses Jahres wäre Cerha 99 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass veranstaltete das Arnold Schönberg Center am 11. März ein Konzert, das einen Bogen von 1946 bis 2018 spannte und so einen – natürlich sehr unvollständigen – Eindruck von dem Weg gab, den Cerha von den Anfängen bis zu seinen letzten Werken gegangen war.
Das Konzert begann mit einem einleitenden Gespräch von Nikolaus Urbanek mit Gertraud Cerha, der Witwe des Komponisten, auf das ich hier nicht näher eingehen will. Der erste Punkt des musikalischen Teils waren 12 Lieder aus dem Buch der Minne, enstanden in den Jahren von 1946 bis 1964. Die Vorlagen sind Gedichte von mittelalterlichen Minnesängern, unter denen sich nebst anonymen Verfassern auch bekannte Namen finden, wie Walther von der Vogelweide, Rudolf von Fenis und die Mystikerin Mechthild von Magdeburg.
Cerhas Vertonung ist schlicht, oft archaisierend mit Anklängen an Kirchentonarten, und mit häufigen Dur/Moll-Wechseln. Der Text des letzte Lieds der von Harald Hieronymus Hein gesungenen Auswahl geht auf Mechthild von Magdeburg zurück und erstaunt durch seinen erklärten Nihilismus: „Du sollst leben das Nichts, Du sollst fürchten das Etwas.“ Die Worte erklingen zu scharf akzentuierten Dissonanzen, die durch lange Pausen getrennt sind, also buchstäblich durch das Nichts. Janna Polyzoides begleitete den Sänger höchst kompetent.

Es folgte das Alte Lied aus den Zwei Stücken für Violine und Klavier, entstanden 1951. Eine Elegie, die an traurige slowakische oder ukrainische Volksweisen erinnert, während der später hinzugefügte virtuose Mittelteil mehr nach ungarischer Zigeunermusik klingt. Der Geiger Demetrius Polyzoides konnte seine Kunst eindrucksvoll demonstrieren, die Klavierbegleitung steuerte wieder Janna Polyzoides bei.
Die beiden setzten fort mit den Deux éclats en reflexion für Violine und Klavier, komponiert 1956. In den Jahren davor hatte Cerha, auch unter dem Einfluss der Darmstädter Avantgarde, einen riesigen Sprung in seiner kompositorischen Entwicklung gemacht. Dass die Deux éclats vom selben Komponisten stammen wie das Alte Lied ist für den Laien kaum begreiflich. Cerha, der ja selbst Geiger war, hat in dieser Schaffensphase neue Spielarten erfunden, die später von keinem Geringeren als György Ligeti als „Cerha-Effekte“ bezeichnet wurden. Auch in der Klavierbegleitung hat Cerha damals noch ungewohnte Spieltechniken eingesetzt. Beim erstmaligen Hören ist es ganz unmöglich, die hinter dem komplexen Stück liegenden Kompositionsprinzipien zu erfassen. Was bleibt, ist ein faszinierender Gesamteindruck und Bewunderung für die beiden Ausführenden.

Auch Schönbergs Phantasy for Violin with Piano, sein Opus 47 aus dem Jahr 1949, ist mit technischen Schwierigkeiten gespickt, die selbst große Geiger und Geigerinnen an die Grenze ihrer Möglichkeiten bringen. Für den unbefangen lauschenden Zuhörer ist die Fantasie einfach ein spannendes, abwechslungsreiches Stück voller origineller musikalischer Einfälle, die keiner weiteren Analyse bedürfen, um ihre Wirkung zu erzielen.
Es folgte ein großer Zeitsprung in das Jahr 2016, in dem Cerha seine 21 naseweisen Notizen
für Klavier solo schrieb. Janna Polyzoides spielte vier ausgewählte Stücke, die durch Witz, aphoristische Kürze und Spontaneität bestechen. Das erste, Schlaflied genannt, ist eine sehnsüchtige Melodie über schmerzlich schönen freien Harmonien, die mich durchaus an Bergs Lulu erinnert haben. Der Ballawatsch (Wienerisch für ein unentwirrbares Durcheinander) ist tatsächlich virtuos verwirrt und endet ausgesprochen abrupt. Die Sommerabendluft ist eine langsame Ballade, eine Improvisation am Klavier, die ein Gefühl der unendlichen Ruhe vermittelt. Die Raserei schließlich ist eine regelrechte Toccata, oder vielleicht auch die Parodie einer Toccata? Die Pianistin bewältigte sie eindrucksvoll.
Den Abschluss bildete die Uraufführung der Späten Gesänge für Singstimme und Klavier, entstanden in den Jahren 2017/2018. Die Vorlagen sind Gedichte von Tamar Radzyner, geboren 1932 in Łódź, verstorben 1991 in Wien. Sie war Widerstandskämpferin im Ghetto von Łódź, überlebte drei Konzentrationslager, und verließ Polen schließlich im Jahr 1959, desillusioniert vom realen Sozialismus und dem fortdauernden Antisemitismus, um sich in Wien niederzulassen.

Ihre Gedichte zeugen von einer tiefen Resignation, die durch Cerhas expressive Vertonung noch verstärkt wird. Besonders erschütterte mich der letzte Gesang, Leid pour Leid, der mit den lapidaren Zeilen endet: „Ich leide mit / Ohne Mitleid.“ Die Klavierbegleitung verklingt in einer leeren Quinte, schon bei Schubert das Intervall der Trostlosigkeit und Resignation. Die Interpretation durch Harald Hieronymus Hein, wie auch die Begleitung durch Janna Polyzoides brachte die düstere Stimmung, die bedrückende Ausweglosigkeit der Gesänge zu verstörender Geltung. Das Publikum im Konzertsaal des Arnold Schönberg Center zeigte sich begeistert und spendete reichlichen Beifall.
Dr. Rudi Frühwirth, 13. März 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeisstert.at
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