Elbphilharmonie Hamburg, 13. Oktober 2020
Konzertreihe „Die Meisterpianisten Extra“
Rudolf Buchbinder: Ludwig van Beethoven – Klaviersonaten
von Dr. Holger Voigt (Text und Foto)
Was für ein Konzertabend in der ausverkauften, jedoch Pandemie-bedingt nur teilweise besetzten Elbphilharmonie! Der erste Blick für das Publikum: Ein einsamer Klavierflügel in der Mitte des weiten Podiums – eine geradezu programmatische Ansage für das bevorstehende Konzert. Drei der bedeutendsten Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, aufs Intimste verknüpt in einem Seelenkosmos von Verzweiflung, Einsamkeit und Wehmut. Niemand konnte sich ihm entziehen. Dieses Konzert war eine wahre Sternstunde!
Früher oder später stellt sich für jeden talentierten, hervorragend ausgebildeten und ambitionierten Pianisten die Frage, ob und wann er/sie das kompositorische Werk Beethovenscher Klaviersonaten in Angriff nehmen solle. In heutigen Zeiten können die Zuhörer aus einer unüberschaubaren Vielzahl unterschiedlichster Werkseinspielungen auswählen und sich auf eine akribische Entdeckungsreise begeben, die nicht einmal vor der Vergangenheit Halt macht. Die Möglichkeiten des Vergleiches unterschiedlicher Interpretationen sind nahezu unbegrenzt. Was auf Tonträgern gebannt wurde, steht allen Generationen quasi auf Knopfdruck zur Verfügung.
Das war zu Beethovens Lebzeiten unvorstellbar. Glücklich konnten sich diejenigen schätzen, die ihn leibhaftig in einem Konzert oder einer Akademie erleben durften und vielleicht sogar auch noch Zeugen seines unerschöpflichen Improvisationsvermögens wurden. Hätten die heutigen Aufzeichnungsmöglichkeiten damals schon bestanden, wäre unser heutiges Beethovenbild noch umfänglicher und die Bewunderung noch unvergleichlich größer.
Unter den beständig in die erste Reihe nachrückenden zeitgenössischen Interpreten – und selbst bei den bereits etablierten von ihnen – finden sich bisweilen aber auch solche, die nicht gut beraten waren, sich an das Klaviersonatenwerk Beethovens heranzuwagen. Auch davon zeugen einige Tondokumente und CD-Einspielungen. Nicht alles, wo „Beethoven“ drauf steht, kommt ihm wirklich nahe. Interessant ist es auch festzustellen, wer von den bekannten und besonders herausragenden Pianisten der einladenden Versuchung hat widerstehen können. Das kompositorische Klaviersonatenwerk Beethovens ist eben nicht nur technisch an allerhöchste Virtuosität gebunden, sondern darüber hinaus an eine unverfälscht ehrliche emotionale Resonanz des Beethovenschen Ausdrucks.
Mit anderen Worten: Jeder Anschein solistischen Imponiergehabes, bei dem der einzelne Solist meint, sich mit seiner eigenen Befindlichkeit in den Vordergrund spielen zu müssen, erweist sich nur allzu oft als nahezu werksverfehlend. Die wirklich „großen“ Interpreten haben und hatten so etwas niemals nötig und auch nicht im Entferntesten daran gedacht, die eigene technische Virtuosität vor Beethoven zu stellen. Unter vielen zählen dazu insbesondere der leider schon vor Jahren verstorbene Emil Gilels sowie der vor 73 Jahren in Tschechien geborene Wiener Pianist Professor Rudolf Buchbinder. In Sachen Beethoven macht ihm niemand etwas vor. Er ist eine unbezwingbare Bastion der Wahrhaftigkeit in der Erarbeitung und Präsentation der Klavierwerke Beethovens, fast eher ein Botschafter denn ein Interpret seiner Werke. Das Hamburger Publikum konnte sich glücklich schätzen, ihn nun – in schweren Zeiten für Kunst und Kultur – in der Elbphilharmonie in zwei aufeinander folgenden Konzerten zu erleben. Gerade rechtzeitig genug, bevor er sich auf den Weg nach Berlin machte, um den Opus Klassik-Preis für sein Lebenswerk in Empfang zu nehmen.
Ludwig van Beethoven ist der ungekrönte Meister der unerwarteten Orchesterschläge, die ihm in seinem sinfonischen Schaffen den Ruf eines Formen-sprengenden Neuerers einbrachten. So etwas hatte man zuvor noch nicht gehört. Es ist nun zwar kein Orchesterschlag, jedoch ein einzelner „zuschlagender“ Akkord, mit dem er seine „Grande Sonate Pathétique“ (sollte in dieser Bezeichnung ein Querverweis zur „Grande Opéra“ ausgewiesen werden?) eröffnet. Und dieser Schlag bestimmt alles. Er klingt hart und durchdringend, es ist fast ein in einen Akkord gepresster Aufschrei des Komponisten. Unmittelbar weiss jeder, dass es hier ums Ganze geht und dass das Ganze von existenziellem Ernst erfüllt ist. Mit vorsichtig angeschlagenen Tönen, fast ungläubig fragend oder feststellend im Ausdruck, schließt er das „Grave“-Motiv an, das bereits in seiner Bezeichnung keinen Zweifel über die Bedeutung mehr aufkommen lässt („grave“ = „ernst“, aber auch „Grab“).
Beantwortet wird das zarte 5-Ton-Motiv durch neuerliche Akkordschläge, die sich durch den ganzen Eingangsteil des Satzes hindurch immer wieder wiederholen. Selbst dann, wenn sich aus dem Motivkern eine ausführbare Themenverarbeitung entwickelt und dabei sogar eine spielerische Qualität annimmt, unterbricht Beethoven den Spielfluß erneut und unvorhersehbar mit einem neuerlichen Akkordschlag, was sogar bis zu einem völligen Anhalten führt. Er scheut sich nicht einmal davor, aus dem Stopp der Vollbremsung eine „komponierte Pause der Stille“ zu machen, die sich nur allmählich lösen kann.
Rudolf Buchbinder erzeugt mit dem beschriebenen Eingangsakkord sowie den nachfolgenden Wiederholungsschlägen, die sich in ihrer Dynamik sogar noch steigern, eine atmosphärische Spannung bedrohlicher Unmittelbarkeit. Jeder versteht: Das hier ist kein pianistischer Belcanto oder gar ein Exerzitium der Virtuosität. Das hier ist vielmehr ein Hineinstoßen in existenzielle Wahrheiten.
Ludwig van Beethoven begann diese Komposition in seinem 27. Lebensjahr, stellte sie 1798 fertig und veröffentlichte sie 1799. Hört man den ersten Satz in seiner ganzen dramatischen Unmittelbarkeit und Dynamik, stellt sich einem zunächst nur eine einzige Frage: Was bringt einen gerade einmal 28-jährigen Komponisten dazu, in einem einzigen Eingangsakkord (und seinen dynamisch verstärkten Wiederholungen) die ganze Bandbreite von Verzweiflung, Schmerz und Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck zu bringen?
Wer sich eingehend mit Ludwig van Beethoven befasst hat, wird stets versuchen, derartige Fragen anhand lebensbiografischer Umstände zu klären oder zumindest begreiflich zu machen. 1798 war Beethoven den Frauen, in die er sich verlieben sollte, noch gar nicht begegnet. Seine Klavierschülerin Giulietta („Julie“) Guicciardi, der er die später von Ludwig Rellstab als „Mondscheinsonate“ bezeichnete Sonate widmete, lernte er im Hause der Adelsfamilie Brunsvik erst 1801 kennen. Sie war zudem bestenfalls eine Umgangsbekannte, für die er anfänglich schwärmerische Empfindungen hegte, die aber rasch aus seinem Blickfeld verschwand. Josephine von Brunsvik, seine „unsterbliche Geliebte“ – wie wir heute wissen – trat erst ab 1799 in sein Leben und kommt somit als auslösender Hintergrund auch nicht in Frage, da die Klaviersonate bereits fertiggestellt war.
Hingegen hatte Beethoven schon seit mehreren Jahren seinen voranschreitenden Hörverlust angsterfüllt bemerkt, war 1798 bereits schwerhörig und verfasste schließlich 1802 sein verzweifeltes „Heiligenstädter Testament“, in welchem er sich seinen Schmerz und seine Verzweiflung förmlich aus der Seele schreibt. Und tatsächlich: Diese niederschmetternde Erfahrung läßt sich am ehesten zugrunde legen, will man verstehen und nachvollziehen können, warum der erste Satz der „Pathétique“ genau diese Introduktion aufweist.
Die Akkorddynamik gleicht dabei dem Versuch eines Kranken, der immer wieder versucht, eine ihm verlorengegangene Funktion dahingehend zu überprüfen, ob sie tatsächlich verlorengegangen ist. Beethoven bündelte im Anschlag des Akkordes alles, was dazu nötig wäre und scheint entsetzt festzustellen, dass er auch durch Intensivierung des Anschlags nicht besser hören kann. Man könnte das „Grave-Motiv“ fast in Worten mitsprechen: „Ich kann nichts hören…“ – eine Feststellung äußerster Resignation. Kehren später diese Akkordschläge wieder, ist es so, als würde ihm die Erkenntnis, dass der Hörverlust eine unumstößliche Tatsache ist, aus dem Nichts heraus immer aufs Neue überfallen, ins Bewußtsein dringen und verzweifeln lassen.
Der zweite Satz (Adagio cantabile) zeigt einen ganz anderen Beethoven: Voller Ruhe und Frieden entfaltet sich ein wunderschönes Thema, das stellenweise wie ein Gebet imponiert. Und tatsächlich scheint der Komponist Zwiesprache zu halten, sich kurzfristig aufzulehnen, um sich dann schließlich doch in sein Schicksal zu ergeben. All dieses fließt geradezu von selbst aus ihm heraus, ganz genau so, wie es Rudolf Buchbinder entstehen lässt. So nahe am Melodiker Beethoven ist kaum jemand.
Der bewegte, recht kurze Schlußsatz (Rondo – Allegro) beginnt geradezu spielerisch – fast schon verspielt – , ist aber alles andere als leicht und beliebig, sondern formal, auch durch Rückbezug mit dem ersten Satz, stringent strukuriert. Buchbinder glänzt mit seiner bis ins kleinste Detail präzisen Virtuosität und Anschlagtechnik, wird dabei aber im Ausdruck von der unverändert präsenten Eingangsspannung des ersten Satzes gehalten.
Die “Sonata quasi una Fantasia”, 1801 fertiggestellt, erhielt erst nach Beethovens Tod die Bezeichnung „Mondscheinsonate“ durch den Dichter Ludwig Rellstab (1799 – 1860), der den langsamen Eingangssatz mit einer nächtlichen Kahnfahrt auf dem Vierwaldstättersee assoziierte. Daran dürfte Ludwig van Beethoven nun überhaupt nicht gedacht haben, doch setzte sich diese missdeutende Bezeichnung weltweit durch und fand sogar Eingang in die musikologische Nomenklatur. Statt einer lautmalerisch idealisierten Kahnfahrt am Beginn der Musikepoche der Romantik, wie sie Rellstab wohl empfunden haben mochte, komponierte Beethoven hier nichts anderes als Trauer und Einsamkeit. Eingebettet in einem stetig fortschreitenden Bewegungsstrom dezent zurückgenommener Triolen erhebt sich eine klagende Einzelstimme, die ihren Status der Einsamkeit monologisiert. Dabei lässt ein punktierter Triolenrhythmus die Vorstellung eines Trauermarsches aufkommen, was als eine musikalische Metapher von Vergänglichkeit das Motiv der Einsamkeit spiegeln würde.
Die Spannungsbögen der Melodieführung schwellen an und ab, verlassen aber das eingangs bestehende Grundmotiv nie. Eine darüber hinaus gehende thematische Verarbeitung findet nicht statt. Obwohl der wie ein Teppich unterlegte Triolengrundrhythmus eine fortschreitende Bewegung suggeriert, bewegt sich der pianistische Klagegesang nicht von der Stelle. Was bleibt, ist eine umso düsterere Stimmung, aus der zu entkommen nicht möglich scheint. All diese seismischen Verdichtungen vermittelt Rudolf Buchbinder mit unnachahmlicher Sensitivität. Hauchartig der mit jedem Gefühl mitatmende Anschlag. Jeden Winkel der Seele wird ausgeleuchtet.
Das Unkonventionelle an dieser Sonate ist der Umstand, dass sie mit einem langsamen Satz (ohne eigentlichen Kopfsatz) beginnt. Bis dato wurde ein derartig langsamer Satz stets als zweiter einem Kopfsatz oder Sonatenhauptsatz angeschlossen. Der sehr kurze zweite Satz – nur knapp 2 Minuten lang – (Allegretto – Trio) läßt ein von Beethoven verändertes Proportionenprinzip erkennen: Die Macht des Eingangssatzes wird durch den nachfolgenden Satz weder gebrochen noch in Frage gestellt.
Im dritten Satz (Presto agitato) stellt Beethoven abermals einen großen Variationensatz in den Mittelpunkt, der voller dramatischer Wendungen und musikalischer Akklamationen ist. Auf jedes kurzfristige Innehalten folgt erneut ein schneller, dynamisch akzentuierter Anteil mit mehrerer Seitenthemen, die alle von dem zentralen Propulsivpresto wieder eingefangen werden. Hier zeigt sich Beethoven als begnadeter Klaviervirtuose, der auf technische Schwierigkeiten nie Rücksicht zu nehmen brauchte.
Die “Sonata Appassionata” beschließt das Programm und setzt damit die düstere Grundstimmung fort. Notabene: Die Schreibweise beinhaltet ein doppeltes „p“, das aus der Verschmelzung „ad passionem“ entstanden ist und der Übersetzung ad = zu, an, bei, nach folgt. Würde man das zweite „p“ fortlassen, bedeutete das „a“ ein Fehlen von Leidenschaft (a = von, weg), was nicht mehr und weniger wäre als das Gegenteil.
Diese Sonate wurde 1805 vollendet und 1807 veröffentlicht. Sie beginnt im ersten Satz (Allegro asai)düster und entwickelt dabei ein formelhaftes Grundmotiv, um das sich zahlreiche Themensegmente gruppieren, dabei aber das durchaus melodische Grundthema nicht antasten.
Der zweite Satz (Andante con moto) zeigt Beethoven wieder von seiner empfindsamen, melodischen Seite. Man könnte diesen Satz durchaus auch als „cantabile“ bezeichnen, und es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass später dazu ein eigenständiger Chorsatz komponiert wurde, der noch heute in Weihnachtskonzerten Verwendung findet (Friedrich Silcher). Die hymnenhafte Melodie des Grundthemas prägte später den Namen „Hymne an die Nacht“, für die auch eine Fassung für Horn und Orchester komponiert wurde – freilich alles erst lange Zeit nach Beethovens Tod.
Das anmutige und berührende Hauptthema wird auf vielfältige Weise variiert, kehrt dabei aber immer wieder zum Ausgangsmotiv zurück. Rudolf Buchbinder glänzt hier mit äußerster Sensitivität und brillianter dynamischer Ausgewogenheit. Beethoven versteht es wie kein anderer, in einem einzigen Ansatz Entschlossenheit mit Zärtlichkeit kompositorisch verschmelzen zu lassen, wie man es immer wieder in seinen Werken nachweisen kann.
Ein kurzes Innehalten und ein sprunghafter Wechsel lassen den dritten Satz (Allegro ma non troppo – Presto) fast übergangslos anschließen. So als wäre ein Sturm aufgezogen, bei dem das Wasser über die Ufer tritt, wechseln sich furiose Läufe mit harten Akkordschlägen ab und scheinen nach einem gemeinsamen Grund zu suchen. Es wird schnell und immer schneller, was höchste Anforderungen an die technische Virtuosität des Pianisten stellt. Eine kurze Ruhephase – die Ruhe nach dem Sturm? – ist trügerisch, immer und immer wieder scheinen die Wellen am Ufer hochzulaufen. Fast ein tonmalerisches Unwettergemälde, würde man nicht vermuten, dass sich alles im Inneren des Komponisten austobt. Im Finale wird alles noch weiter an Geschwindigkeit gesteigert, bis die Sonate dann energisch zum Abschluss kommt.
Tiefe Betroffenheit im Publikum, die sich in einem Beifallssturm entlädt. Ovationen für einen grandiosen Rudolf Buchbinder, der Beethoven verstanden hat wie kaum ein anderer, der aber weiter auf der Suche nach dem Unergründlichen in ihm ist. Rudolf Buchbinder bedankt sich bei dem Publikum mit dem Finale aus der Klaviersonate Nr. 17 d-Moll op. 31 Nr. 2 („Der Sturm“). Ein unvergesslicher Konzertabend geht voller Freude zu Ende.
Dr. Holger Voigt, 20. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Rudolf Buchbinder, Klavier
Ludwig van Beethoven
Sonate c-Moll op. 13
“Pathétique”(“Grand Sonate Pathétique”)
Sonate cis-Moll op. 27 Nr. 2
“Sonata quasi una Fantasia” (“Mondscheinsonate”)
Sonate f-Moll op. 57
“Sonata Appassionata”