Siegfried © Stephan Walzl
Richard Wagner DER RING DES NIBELUNGEN
Oldenburgisches Staatstheater, September/Oktober 2022
von Dr. Klaus Billand
Der bereits im Jahre 2017 begonnene und wegen der Pandemie mehrfach aufgehaltene neue „Ring des Nibelungen“ am Oldenburgischen Staatstheater wurde im Herbst 2022 dreimal zyklisch aufgeführt. Das oldenburgische Publikum und die von weither angereisten Gäste erlebten eine überaus lebhafte, völlig stimmige und dennoch phantasievolle Interpretation, die sie zu großer Begeisterung mit oft stehenden Ovationen hinriss.
Der österreichische Regisseur Paul Esterházy, mit dem Intendanten Christian Firmbach schon länger von gemeinsamer Arbeit an einem anderen Hause bekannt, wählte mit seinem kongenialen Bühnen- und Kostümbildner Mathis Neidhardt ein rustikal-bäuerliches Ambiente in einem immer wieder rotierenden Bühnenbild aus Scheunenholz. Das erwies sich als eine für ein relativ kleines Haus nahezu ideale Lösung, Wagners „Ring“ in einer menschlich intensiven und emotional fokussierten Ästhetik zu erzählen. Dabei ergab sich der Eindruck einer gewissen Familien-Saga relativ stringent und ganz beiläufig, wie sie im Sommer 2022 in Bayreuth von Valentin Schwarz so bemüht, lautstark postuliert und dann doch weitgehend verfehlt wurde.
Der Oldenburger „Ring“ spielt vollkommen dem immer mehr aus dem Ruder laufenden Regietheater unserer Tage entgegengesetzt, dessen Schwächen mittlerweile auch schon von bedeutenden Repräsentanten der Opernszene wie Iván Fischer mit seiner Iván Fischer Opera Company im Teatro Palladio von Vicenza, Philippe Jordan an der Wiener Staatsoper und den weltbekannten Opernsängern Andreas Schager und Jonas Kaufmann sowie vom Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan kritisiert wurde. Letzterer findet, wie schon der bekannte schweizerische Bühnenbildner und Regisseur Roland Aeschlimann in einem Interview mit dem Autor im Mai 2008 (Merker 06/2008) in Chamonix betonte, dass immer mehr das Handwerk verloren geht.
Hingegen findet der Oldenburger „Ring“, der nun leider erst einmal abgespielt ist, ganz bodenständig irgendwo in einem kleinen Dorf in den Bergen statt, in denen Richard Wagner so gern wanderte. Man denke nur an seine legendären Ausflüge auf das Schweizer Faulhorn. Esterhazy sagt in einem Interview im allumfassenden Programmbuch, dass es das leading team gereizt habe, zusätzlich zum dystopischen „Spiel der Mächtigen“ oder dem kosmischen „Krieg der Sterne“ den gegenteiligen Weg zu gehen. Wagner hatte ja selbst einmal im Zusammenhang mit dem „Rheingold“ von einem „Bauernprozess“ gesprochen. So suchte man in der abgeschiedenen zeitlosen Welt der alpinen Bergtäler, wo der Komponist ohnehin die Tetralogie zu signifikanten Teilen geschrieben hatte, einen solchen Mikrokosmos und hat ihn offenbar, wie die Inszenierung über alle vier Abende vor stets verkauftem Hause und bei dem frenetischem Applaus des Publikums zeigte, auch gefunden. Damit hat man in der Produktion auch den Naturphänomenen und der Tierwelt, der Wagner ja immer so nahe stand, wie nicht nur seine große Liebe zu Hunden offenbart, wieder Raum gegeben. In der Regel wird sie in den zu beobachtenden Regietheater-Produktionen meist vollständig ausgeblendet, natürlich als hoffnungsloses Element eines vermeintlich in unserer modernen Zeit unakzeptablen Konservatismus gesehen. Dabei kommt es auch hier darauf an, wie man sich ihr widmet und sie in die Dramaturgie einbaut.
Indem die Tetralogie also derart konsequent auf eine Mikro-Ebene heruntergebrochen wird, zeigte sich in Oldenburg die enorme Potenz und Suggestivkraft der Wagnerschen Werkaussage und der ihr entsprechenden Partitur mit einer dazu bestens passenden Personenregie umso intensiver. Es werden immer wieder neue Szenen und Raumsegmente sichtbar durch die Rotation dieses Bühnenraumes, in dem manchmal andere Szenen einblenden, so beispielsweise während des langen Wotan-Monologs in der „Walküre“, aber auch nur Erinnerungen an frühere Gegebenheiten hervorkommen. Oft kann man auch gleichzeitig in verschiedene Räume sehen und dabei ein Stück Handlungsgeschichte oder Parallelwirkungen von Geschehnissen erkennen. Damit kommt es nebenbei nie zu unerwünschten Längen in der Geschichte. Stets strahlt das Bühnenbild lebhafte und interessante Information aus.
Nur zwei Bespiele: Die anfänglich noch gesund wirkende Weltesche, die durch die Bretterwände in die Räume wächst, wird über die vier Abende zum welkenden, langsam alle Blätter verlierenden Baum, bis sie schließlich in der „Götterdämmerung“ als Feuerholz an dem Steinofen wird, auf dem Wotan in der „Walküre“ Brünnhilde zu Schlaf bettete. Der Waldvogel wird schon ganz früh von Sieglinde in Hundings Hütte gepflegt, hilft dann Siegfried bei seinen Heldentaten und taucht auch nochmal in der „Götterdämmerung“ auf. Es sind nur zwei von vielen kleinen Erzählsträngen, die das dichte Gewebe dieser so spannenden Inszenierung ausmachen. Dazu gehört auch, dass Erda in einem schwarzen, ihr Gesicht fast ganz verhüllenden Ornat, von allen unbemerkt von Beginn des „Rheingold“ an in einer Ecke des Raumes sitzt, ganz rollengerecht als Urmutter des Werdens und der Allwissenheit… Dabei spielt auch die Lichtregie von Ernst Engel immer wieder eine dramaturgisch und emotional eindrucksvolle Rolle. Viele Szenen erreichen gerade durch sein differenziertes, einmal trüb gespenstisches, ein anderes Mal klar erhellendes Licht, ihre Wirkung.
Was die Oldenburger Inszenierung aber auch endlich einmal wieder würdigt, ist Wagners Faszination am Mythos, der der Tetralogie ganz wesentlich inhärent zugrunde liegt. Man denke nur an seine Quellen wie die isländische ‚Völsungasaga‘, die norwegische ‚Thidekssaga‘, eine umfangreiche Sagenkompilation aus dem 13. Jahrhundert in altnordischer Sprache, die in Prosa das Leben des in Deutschland als Dietrich (Thidrek) von Bern bekannten Helden erzählt. Dazu griff Wagner noch auf die ‚Edda‘, den altenglischen ‚Beowulf‘ und die kurz zuvor erschienene ‚Deutsche Mythologie‘ der Gebrüder Grimm zurück. Indem er diese Sagen dramaturgisch zielführend für die Aussagen seiner „Ring“-Geschichte zusammenführte und verknüpfte, unterstrich der Komponist auch den mythologischen Gehalt der Tetralogie.
Dass genau dies in Oldenburg verstanden und optisch hochinteressant und emotional einnehmend verstanden und umgesetzt wurde, ist ein großes Verdienst des leading teams und des Generalintendanten. Wieviel Herzblut über die Jahre ihrer Entstehung seit 2017 in diese Produktion mit ihrer ungewöhnlichen menschlichen Intensität geflossen ist, sieht man auch an der Herausgabe der „Nibelungen Post“ des Oldenburgischen Staatstheaters – Sonderausgabe 2022 – einer an das „Geschätzte Publikum“ gerichteten Gratis-Zeitung mit vielerlei Information und Künstler-Interviews zu diesem „Ring“.
Und die dazu von Wagner geschaffene und genau für eine solche Sichtweise des „Ring“ konzipierte Musik wusste der oldenburgische GMD Hendrik Vestmann mit dem Oldenburgischen Staatsorchester ebenso intensiv und packend umzusetzen. Man meinte bisweilen, auch aufgrund der guten Akustik im relativ keinen Haus, mitten im musikalischen Geschehen zu sitzen, ja direkt ins Geschehen involviert zu sein. Was kann man mehr erwarten von einer gelungenen Inszenierung?! Besonders überraschte neben dem guten Streicherensemble die hohe Qualität der Blechbläser. Allein schon Siegfrieds Hornrufe waren so perfekt, wie man sie oft an großen Häusern nicht hört! Und auch das Holz hatte immer wieder starke stimmungsvolle Momente. Besonders fiel aber Vestmanns immer wieder beeindruckend vorgetragene Dynamik auf, so beispielsweise beim Vorspiel zum 3. Aufzug des „Siegfried“, in den Orchesterzwischenspielen und im Finale der „Götterdämmerung“. Da erreichte der Oldenburger „Ring“ auch musikalisch eindrucksvolle Höhe.
Was wäre diese Produktion jedoch ohne das Sängerensemble gewesen, welches man nach Oldenburg rufen konnte und über das man zu großen Teilen dort schon verfügt?! Die in dieser Rolle schon weithin bekannte Nancy Weißbach gab eine emphatische und ebenso stimmschöne wie attraktive Brünnhilde. Sie gestaltete insbesondere den 3. Aufzug der „Walküre“ mit Wotan, den 3. Aufzug des „Siegfried“ mit Siegfried und das Finale der „Götterdämmerung“ äußerst musikalisch und stellenweise ergreifend. Zoltán Nyari wartete zunächst als kämpferischer Siegmund mit beeindruckender heldentenoraler Potenz auf und war dann ein agiler und stimmstarker Siegfried, dessen großartiges vokales Potenzial nur noch eines gewissen Feinschliffs bedarf. Dann wird er ganz weit kommen. Im November sang er den Siegfried ja in „Siegfried“ in Budapest mit großem Erfolg (Merker 12/2022). Die Koreaner Kihun Yoon und Leonardo Lee sangen beide auf gleich hohem Niveau Wotan und Alberich (Yoon Wotan in „Walküre“, Wanderer und Alberich in „Rheingold“; Lee Wotan in „Rheingold“ und Alberich in „Siegfried“ und „Götterdämmerung“). Beide schienen sich gegenseitig überbieten zu wollen, wer der Sänger mit der größten Stimmkraft ist, und haben mit einer perfekten Diktion und Phrasierung, und Yoon zudem mit einem bestechenden Legato, internationales Format. Welches kleinere Haus kann sich einer solchen Doppelbesetzung für solch große Wagner-Rollen rühmen?!
Ann-Beth Solvang gab eine überaus empathische und spielfreudige Sieglinde, und später auch eine gute Gutrune. Sie konnte mit ihrem schön timbrierten und facettenreichen Sopran für sich einnehmen. Melanie Lang war eine wandlungsfähige Fricka mit gutem Mezzo, die in den Familienversammlungen am Tisch des größten Wohnraums wie eine Clanführerin wirkte, ganz so wie die älteste Sennerin auf einer Alm in den Bergen… Lang war in der „Götterdämmerung“ auch eine starke Waltraute. Edna Prochnik gab eine geheimnisvolle, tiefgründige und urmütterhaft souveräne Erda mit einem klangvollen tiefen Mezzo, die gleichwohl immer noch erotische Anziehung ausübt. Der Wanderer konnte verständlicherweise kaum von ihr lassen. Die Nornen in Weiß woben unterdessen weiter am Schicksalsfaden… KS Matthias Wohlbrecht sang und spielte einen persönlichkeitsstarken und immer wieder mit Feuer hantierenden Loge und „Siegfried“-Mime, mit kraftvollen Höhen und emotionalen Ausbrüchen seines Charaktertenors. Er wurde als Mime geschickt vom kleinwüchsigen Peter Brownbill gedoubelt, um ihm die Last abzunehmen, auf Knien gehen zu müssen (!), um die Zwergengestalt zu bekommen. So waren also beide tatsächlich Zwerge!
Mit einem samtenen und klangvollen Bass beeindruckte auch der Finne Sami Luttinen als Fasolt, Hunding und Hagen, den er auch sehr intensiv gestaltete. Man wähnte sich schon etwas an seinen großen, ja legendären Landsmann Matti Salminen erinnert… Andreas Hörl war ein in der Tat riesiger Riese Fafner in „Rheingold“ und „Siegfried“, auf Stelzen gehend oder auf seinem Goldschatz lehnend, was Erinnerungen an die Riesen in Patrice Chéreaus Bayreuther „Rheingold“ von 1976 aufkommen ließ. Hörls Bass ist noch tiefer und klangvoller geworden als bei seinem Hagen vor Jahren in Meiningen. Shin Yeo war ein guter Donner. Martha Eason zwitscherte einen hellen Waldvogel mit dem ebenso an Chéreau erinnernden Vogel im Käfig, den Sieglinde einst mit Siegmund aus Hundings Hütte rettete. Auch im Vogelbauer sitzt ein Pärchen! Maiju Vaahtoluoto, Susanne Serfling, Erica Back, Martyna Cymerman, Hanna Larissa Naujoks, Maren Engelhardt, Nana Dzidziguri, Sarah Alexandra Hudarew; Timo Schnabel und Johannes Leander Maas agierten und sangen gut, zum Teil in mehreren Partien, in den weiteren Nebenrollen.
Es ist zu hoffen, dass wenigstens Teile dieser Produktion noch einmal in der neuen Direktion in Oldenburg kommen werden, da Generalintendant Firmbach bald ans Staatstheater Karlsruhe wechseln wird. Der Oldenburger „Ring“ ist ein Musterbeispiel dafür, wie man an einem relativ kleinen Haus überzeugend Wagners große Tetralogie in Szene setzen und damit nicht nur die Kritik, sondern auch das Publikum begeistern kann…
Das Coverbild des eindrucksvoll bebilderten und an interessantem Text reichen Buches, welches das Oldenburgische Staatstheater zu dieser Inszenierung herausgab, zeigt auf der Titelseite den ersten direkten visuellen Nachweis für ein supermassereiches schwarzes Loch und seinen Schatten. Es wurde von den Event Horizon Telescope (EHT)-Forschern mit einer erdumspannenden Anordnung von acht bodengebundenen Radioteleskopen durch internationale Zusammenarbeit produziert und zum ersten Mal im April 2019 veröffentlicht. Ein historisches Bild, das von der Wissenschaft Einsteins und Schwarzschilds bis zu den Herausforderungen und Erfolgen der EHT-Kooperation zeugt. Gibt es einen noch stärkeren Ausdruck für die Universalität der Tetralogie Richard Wagners mit ihrem ebenso universalen Mythos?!
Klaus Billand, 3. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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