Alan Gilbert, Foto: Peter Hundert ©
Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie, 25. Juni 2022
Saisonabschluss-Konzert
Dmitri Schostakowitsch, 3. Streichquartett A-Dur op. 73
Richard Strauss, Eine Alpensymphonie op. 64
NDR Elbphilharmonie Orchester
Alan Gilbert, Dirigent
Noah Quartett
von Dr. Andreas Ströbl
Zum Finale der Saison 2021/22 hatten Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester den Pianisten Yefim Bronfman eingeladen; er sollte im ersten Teil Béla Bartóks 2. Konzert für Klavier und Orchester spielen. Leider hatte er sich tags zuvor einen Finger verletzt und so präsentierte Alan Gilbert in seiner charmant-lockeren Art das Ersatzprogramm: Das Noah Quartett, bestehend aus Alexandra Psareva (Violine), Bettina Barbara Bertsch (Violoncello), Michael Stürzinger (Violine) und Erik Wenbo Xu (Viola) gab Schostakowitschs 3. Streichquartett in A-Dur, op. 73. Alle vier sind auch Mitglieder des Elbphilharmonie Orchesters und deren Darbietung war weit mehr als nur ein „Plan B“.
Das fünfsätzige Stück aus dem Jahr 1946 ist zwar stimmungsmäßig von den Kriegsjahren geprägt, aber Schostakowitsch spielt hier mit seinem hintergründigen und schweren Humor, indem er vermeintlich einfache Melodien mit seinen typischen Brüchen und Grotesken kombiniert und spielerische Elemente gleich wieder zur Parodie verzerrt.
Das Allegretto möchte sorglos und fröhlich sein, erfährt aber umgehend eine nervöse Steigerung, stolpert, hält inne und hetzt wieder fast hysterisch vorwärts. Im Moderato con moto verbleibt die unterschwellige Nervosität, wird gerade durch das Cello mit einem bedrohlichen Ton gefärbt, endet aber sehr zart. Das zentrale Allegretto non troppo beginnt mit hartem Anstrich und wirkt frostig; der hastende Duktus des Satzes mit seiner Parodie auf einen preußischen Militärmarsch hat etwas Aggressives. Schostakowitsch scheint hier ein weiteres Mal seine Angst vor dem Stalin-Terror nicht verhehlen zu können oder zu wollen.
Als Threnodie, also als Trauergesang wird das Adagio bezeichnet und in der Tat wirkt der Satz leidend, ja depressiv, bestenfalls melancholisch. Eine zurückgenommene Leichtigkeit vermitteln lediglich die Übernahmen und Variationen der Motive durch die einzelnen Instrumente und, im nahtlosen Übergang in den Moderato-Finalsatz, einem plötzlichen Kippen in eine scheinbare Munterkeit mit einem Hauch von Zuversicht. Allerdings kann die lebhafte Rhythmik nie eine lauernde Resignation verhehlen. Aus dem Ausklang mit seiner zärtlichen Feinheit spricht eine Spur von Hoffnung auf bessere Zeiten.
Dass eine herausragende Leistung von vier Musikerinnen und Musikern, die ein unfassbar sensibles Werk mit größter Hingabe wiedergegeben haben, vom Publikum völlig totgeklatscht wurde, ist ein Umstand, der leider eine eigene Erörterung verlangt. Sicher 70 Prozent der „Elphi“-Besucher bewiesen nach jedem Satz eine völlige Ignoranz und Respektlosigkeit vor Werk, Komponist und Ausführenden. Schostakowitsch hätte erschüttert den Saal verlassen.
Glücklicherweise verfügt Strauss’ gewaltige Tondichtung „Eine Alpensymphonie“ über keinerlei Pausen und so schaffte es die tumbe Schar auch nicht, dieses Klangmassiv zu erschüttern. Der frühere vermeintlich düstere Beiname „Der Antichrist“ mag so gar nicht zu dem lebensbejahenden Naturmonument passen, aber wenn man an Nietzsches Philosophie und vor allem die Strauss’sche „Zarathustra“-Rezeption denkt, ist der Kreis geschlossen. Der Komponist hatte einerseits mit dem Christentum nicht viel zu schaffen, andererseits gefiel ihm Nietzsches Kulturkritik am deutschen „Philistertum“. Und so ist es die heldische Stimmung und die Beschwörung der das Mittelmaß übersteigenden Größe, was literarische Vorlage und musikalische Umsetzung verbindet.
Groß und erhaben ist tatsächlich, was Strauss hier 1915 als beeindruckendes Tongemälde aufgebaut hat – die mehr als fürstliche Gage für dieses musikalische Gebirge hat Strauss von den Philistern übrigens gerne entgegengenommen. Gustav Mahler hatte ihm mehrfach vorgeworfen, sich an die geschmähte Masse zu verkaufen, wogegen Strauss dem zum Katholizismus konvertierten Juden Mahler einen antiquierten christlichen Moralismus unterstellte. Bei aller Rivalität schätzten die beiden einander doch sehr und dass der Musikwissenschaftler Tim Ashley aus der „Alpensymphonie“ eine starke Nähe zu Mahler heraushört, kommt nicht von ungefähr. Allein die Größe des Orchesters und die Verwendung ungewöhnlicher Klangmittel wie Herdenglocken, Windmaschine und Donnerblech gemahnt an Mahler, zumal seiner 6. und 7. Symphonie. Und wenn schon nicht der christliche Gott, so ist es derjenige der „südlichen Zonen“, wie Mahler ihn benannte, der hier wie Pan die alpine Welt durchstreift, mit all den Naturlauten und der Gewalt eines auf einer Bergtour mitunter lebensgefährlichen Gewitters.
Wer unter den Nordlichtern noch nie auf einem Berggipfel gestanden hat und beispielsweise die Majestät der Dolomiten nur aus dem Fernsehen kennt, kann kaum ermessen, wie, das Tiefste der staunenden Seele berührend, der Münchner hier diese mächtige Landschaft gezaubert hat. Der goldleuchtende Sonnenaufgang nach dem geheimnisvollen Beginn der nächtlichen Wanderung ist wohl das Schönste und Strahlendste, was Strauss jemals schuf.
So ganz anders als der Komponist, dessen mehr als zurückhaltendes Dirigat ein Musikjournalist einmal in die Nähe der Arbeitsverweigerung gerückt hat, umfasste Alan Gilbert mit weiten Armbewegungen und entschiedener Beinarbeit das phantastisch spielende Riesenorchester und riss Musikerinnen und Musiker begeistert und begeisternd zum Gipfelsturm mit.
Die immer wieder aufgebrachte Unterstellung, Strauss habe in dieser Symphonie jegliche ironische oder humorige Brechung unterlassen, was den Vorwurf der Oberflächlichkeit impliziert, mag für diejenigen maßgeblich sein, die kein Werk ohne erschütternden Tiefgang gelten lassen. Aber wer schafft es denn sonst, ein Gewitter zu komponieren, in dem man die Regentropfen auf die Haut prasseln fühlt und, wenn die Sonne wieder hervorbricht, die wunderbar duftende feuchte Erde klanglich so zu malen, dass man sie riechen kann? Strauss kokettierte damit, den Unterschied zwischen einem Pilsener und einem Kulmbacher Bier musikalisch darstellen zu können. Hinter dieser spaßigen Selbstüberhöhung verbirgt sich die Tatsache, dass der Mann es wirklich vermochte, synästhetische Brücken zu überschreiten.
Ja, er hat in seinem letzten großen Orchesterwerk wirklich alle Register gezogen, war aber so klug und hat es nicht mit einem mächtigen Knall enden lassen. Die unvergessliche Wanderung findet ihren Abschluss in ebender dunkel-wabernden Tiefe des Tals mit seinen alten Bäumen und murmelnden Bächen, in der sie begonnen hatte.
„Ich habe noch nie sowas Großartiges gehört“, meinte eine derjenigen Besucherinnen, die den Schostakowitsch nicht zerklatscht hatten. Recht hat sie und mit ihr der Teil des begeisterten Publikums, der über Ohren und Herz für Feinheit und Erhabenheit verfügte. Bravi für das Orchester und seinen sympathischen Dirigenten!
Dr. Andreas Ströbl, 27. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
NDR Elbphilharmonie Orchester, Herbert Blomstedt, Dirigent Elbphilharmonie, 17. Juni 2022