Foto © Marco Borrelli
Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, Salzburg, 30. August 2017
Gaetano Donizetti: Lucrezia Borgia in konzertanter Aufführung
Mozarteum Orchester Salzburg unter der Leitung von Marco Armiliato;
Wiener Staatsopernchor; Ildar Abdrazakov (Don Alfonso), Krassimira Stoyanova (Lucrezia Borgia), Juan Diego Flórez (Gennaro), Teresa Iervolino (Maffio Orsini), Mingjie Lei (Jeppo Liverotto), Ilker Arcayürek (Oloferno Vitellozzo), Gleb Peryazev (Apostolo Gazella), Ilya Kutyukin (Ascanio Petrucci), Andrzej Filonczyk (Gubetta), Andrew Haji (Rustighello), Gordon Bintner (Astolfo)
von Raphael Eckardt
Mit Gaetano Donizettis „Lucrezia Borgia“ endet in Salzburg eine Festspielzeit, die sich auch durch zahlreiche Besonderheiten in Sachen Opernaufführungen auszeichnete. Zwei konzertante Produktionen haben dem Publikum die Begegnung mit Werken ermöglicht, die in dieser Form im realen Bühnenleben kaum eine Chance haben, gezeigt zu werden. Neben Giuseppe Verdis „I due Foscari“ stand zum Abschluss Donizettis „Lucrezia Borgia“ in einer Fassung auf dem Festspielprogramm, die sich nahezu minimalistisch aufs Wesentliche beschränkte und dem Publikum dadurch vor allem eines ermöglichte: die pure Konzentration auf die Musik.
Dieser Punkt kristallisiert sich vor allem im Zusammenhang mit Verdis Opernstil als interessante Note heraus, haben beide Komponisten doch eine enge Verbindung zueinander: Verdi wirft bei seinen beiden Foscari zunehmend alte Belcanto-Konventionen über Bord. Gerade im Mittelakt überlässt der italienische Komponist durchkomponierten Passagen den Vortritt vor verschachtelten Formelementen. Donizetti schrieb in einem Brief an einen guten Freund, Verdis „Foscari“ sei ein Werk voller Geistesblitze.
Dass Donizetti den Wandel von der strikten Belcanto-Oper hin zur durchkomponierten Form als richtungsweisend für eine gesamte Gattung erkannt hat, verwundert insofern nicht, da sich dieser selbst regelmäßig zu Stilbrüchen mit alten Traditionen hinreißen ließ. „Lucrezia Borgia“ als konzertante Version ermöglicht dem Zuhörer einen alternativen Zugang zu einem weltbekannten Werk, der sich an diesem Abend als ganz wunderbar erweisen sollte: als rein musikalischer, beinahe meditierender Genuss ohne Ablenkung durch Inszenierung und ohne Drang zum Bombastischen und Vulgären.
Besetzt ist diese „Lucrezia Borgia“ mit reichlich Weltklasse und ein wenig jugendlichem Esprit: Mit Marco Armiliato am Pult des Mozarteum Orchesters Salzburg konnte ein Ensemble gewonnen werden, das sich als Donizetti-Spezialist herauskristallisieren sollte: Geradezu befreit präsentiert es am Finalabend der Festspiele eine musikalische Darbietung voller Emotionen und struktureller Besonderheiten. Hier und da gelingen Armiliato feinskizzierte Stilbrüche. Da hat jeder Takt seine eigene Mimik, jede Note ihre eigene Gestik – all das, was dem Zuhörer durch das fehlende Bühnenbild visuell verborgen bleibt, bezieht Armiliato systematisch in die Musik mit ein. Schroffe Konturen wechseln sich mit lieblichen Episoden ab, musikalische Charaktere blitzen hin und wieder durch nuancenreiche Agogik in mannigfaltigster Weise auf. Das, was Armiliato da kreiert, gleicht einem riesigen, detailreichen Ölgemälde. Hier und da blitzen bei genauem Hinsehen neue Farben auf, plötzlich beginnt alles lebendig zu werden! Kennen Sie Albrecht Altdorfers „Alexanderschlacht“? Armiliato zeichnet sie an diesem Abend feiner denn je nach! Welch’ unglaubliche Liebe zum Detail dieser junge Italiener an den Tag legt, ist sagenhaft!
Ähnliches gilt für den an diesem Abend fabelhaft aufgelegten Wiener Staatsopernchor: Selten sind Chorpassagen in Belcanto-Opern mit einem derartigen Farbenreichtum dahergekommen wie an diesem Abend. Alles kommt aus einem Guss: Da ist ein gewaltiger, reißender Strom zu spüren, der sich in tausend Farben fließend einen Weg durch die emotionale Weite in Donizettis Musik bahnt. Armiliato hat auch ihn fest im Griff. Ja, dieser junge Dirigent ist der Schöpfer einer außergewöhnlichen musikalischen Vielfalt. Mit italienischem Temperament und reichlich Leidenschaft ist Armiliato der heimliche Star des Abends!
Solistisch versprechen allein große Namen musikalische Weltklasse: Niemand Geringeres als Krassimira Stoyanova stellt sich als Titelheldin in Donizettis Werk vor. Eine Künstlerin, die in den vergangenen Jahren überwiegend durch exzellente Strauss-Darbietungen auf sich aufmerksam gemacht hat, sollte an diesem Abend beweisen, dass sie auch eine ausgezeichnete Belcanto-Sängerin ist. Mit der nötigen Feinfühligkeit und ohne musikalische Überdrehtheit, geht sie Donizettis beinahe traumhaft anmutende musikalische Strukturen hochprofessionell an: Makellose Phrasierungen, hinreißende Kolloraturen – diese Krassimira Stoyanova ist ein Phänomen!
Musikalisch liegen Strauss und Donizetti ungefähr so weit auseinander wie die Erde und die Sonne. Beide Komponisten mit der nötigen Souveränität exzellent darbieten zu können, erfordert nicht nur ein hohes Maß an Kreativität, sondern auch an musikalischer Toleranz. Stoyanova performt Donizetti, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Bei jeder Passage scheint sich ein riesiger Regenbogen über den Salzburger Nachthimmel zu legen. Da ist eine Wärme zu spüren, die jeden im Publikum in ihren Bann zieht! Ein Sommerregen, der Lichtstrahlen in tausend Farben reflektieren lässt. Bravo!
Der peruanische Tenor Juan Diego Flórez besticht als souveräner Gennaro. Mit beachtlicher Sicherheit besiegt Flórez alle heiklen Stellen mit schmetternder Stimme. Dann sticht plötzlich die immense Tiefe seines musikalischen Ausdrucks hervor: hier ein authentischer Seufzer, da ein aufjubelnder Freudenschrei. So bewundernswert die musikalische Fülle von Flórez’ Stil auch sein mag, überdeckt sie an diesem Abend leider auch einige wunderbare Feinheiten in Donizettis Musik. Da, wo sich Flórez anfänglich um Diskretion und Zurückhaltung bemüht, kann er stimmlich nicht vollends überzeugen. Im Laufe des Werkes wird er dennoch immer besser. Effektvolle, aber teilweise maschinell wirkende Gestaltung weicht zunehmend einer flexibleren Darbietung. Ja, da hat ihn Frau Stoyanova wohl auch in ihren Bann gezogen! Flórez findet schon bald zu seiner bekannten Ausdrucksstärke zurück und überzeugt vor allem gegen Ende: Da öffnet er ein Tor ins Jenseits, das ein beklemmendes Gefühl im Publikum auslöst. Hoch emotional, hoch authentisch! Flórez vermischt Gefühlszustände wie ein impressionistischer Maler verschiedene Aquarellfarbtöne. Diese Festspiele sind wirklich von außerordentlicher interpretatorischer Klasse!
Der heimliche Star unter den Solisten sollte an diesem Abend die junge Italienerin Teresa Iervolino in der Rolle von Maffio Orsini sein. Mit stürmischer Energie und einem guten Stück jugendlicher Unbekümmertheit schmettert die Mezzosopranistin eine Leistung aufs Parkett, die man erst einmal in Worte fassen muss. Da sitzt jeder Ton, jede Phrase strotzt vor Selbstvertrauen und Sicherheit: In diesem Alter so eine Leistung abzuliefern, zeugt von unfassbar hoher musikalischer Klasse und riesigem Talent. Da, wo sich anderen Künstlern die Frage nach dem richtigen Weg der Annäherung an Donizettis Musik stellt, fackelt Iervolino nicht lange: Hier eine ausgefallene Phrasierung, da zärtliches Vibrato im Pianissimo. Der Zauber in Iervolinos Stimme vollendet eine gewaltige Traumlandschaft, die sich im Saal ausbreitet. Fabelhaft!
Ab April 2018 ist Iervolino übrigens in gleicher Rolle an der Bayerischen Staatsoper in München zu hören. Da darf man wirklich gespannt sein, ob diese Darbietung noch einmal übertroffen werden kann!
Mit Ildar Abrazakov überzeugt ein weiterer Solist als Lucrezia Borgias vierter Ehemann, Don Alfonso. Seine durchdringende Bassstimme komplettierte eine musikalisch durchweg runde Darbietung an diesem Abend durch imposant, emotionale Tieftöne, deren Obertonreichtum schon beachtlich ist.
Es kann wohl keinen würdigeren Abschluss der Salzburger Festspiele 2017 geben als eine „Lucrezia Borgia“ von dieser musikalischen Klasse. Gaetano Donizetti ist immer wieder als Komponist verschrien, dem musikalisch keine großen Würfe gelungen sind. Auch „Lucrezia Borgia“ wird leider oft in diesem Zusammenhang genannt und als Oper stark unterschätzt.
Genau aus diesem Grund ist eine konzertante Version dieser Klasse Gold wert: Wer Donizetti so versteht und interpretiert wie Armiliato und die anderen Musiker an diesem Abend, hat eine Inszenierung zur emotionalen Untermalung gar nicht nötig! Die Geschichte erzählt Donizettis Musik dann nämlich von ganz alleine – auf eine mystische und träumerische Art und Weise, die auch die Fantasie des Publikums weckt. Ganz nach dem Motto: Warum einen Film schauen, wenn man auch ein Buch lesen kann?
Raphael Eckardt, 31. August 2017, für
klassik-begeistert.de
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