Klangsinnlicher Schönberg, klangprächtiger Mahler.
Philharmonie Essen Klaus Mäkelä, Royal Concertgebouw Orchestra © Volker Wiciok/TUP
Das Concertgebouworkest betört unter Klaus Mäkelä in der Essener Philharmonie.
Arnold Schönberg (1874-1951) – Verklärte Nacht op. 4 (Bearbeitung für Streichorchester)
Gustav Mahler (1860-1911) – Sinfonie Nr. 1 D-Dur
Concertgebouworkest
Klaus Mäkelä, Dirigent
Essen, Philharmonie, 21. September 2024
von Brian Cooper, Bonn
In diesem Jahr wird nicht nur Anton Bruckner gefeiert (200. Geburtstag), sondern auch Charles Ives (150.), der im Oktober 1874 in Connecticut zur Welt kam. Ein drittes Geburtstagskind ist Arnold Schönberg (150.), einen Monat vor Ives in Wien geboren. Allenthalben ertönen plötzlich Gurre-Lieder (teuer!) und Schräges aus Amerika.
Das Concertgebouworkest ist zur Freude Vieler häufig in Essen zu Gast. Diesmal hatte es unter seinem „künstlerischen Partner“ und künftigen Chefdirigenten, Klaus Mäkelä, Schönbergs Verklärte Nacht und Mahlers Erste im Gepäck. Man erblickte den ganzen Abend über immer wieder lächelnde Gesichter im Orchester. Die Chemie mit dem 28-jährigen Finnen scheint zu stimmen. Nicht nur Konzertmeister Vesko Eschkenazy pflegt offenbar einen sehr herzlichen Umgang mit ihm.
Es ist natürlich für die meisten Menschen verlockend, sich eher mit dem tonalen Schönberg zu befassen statt mit dem Zwölftöner, und ich gestehe freimütig, dass auch ich dazugehöre: Verklärte Nacht, sowohl in der Sextett-Fassung als auch in der hier zu hörenden (eigenen) Bearbeitung für Streichorchester, ist ein Lieblingsstück.
Mäkelä, und das ist bemerkenswert, dirigierte im Gegensatz zur später folgenden Sinfonie die Verklärte Nacht auswendig. Auch wenn einem das Dehmel-Gedicht nicht vertraut ist („Zwei Menschen gehen durch den kahlen, kalten Hain“; eine Frau gesteht ihrem Liebhaber bei Mondschein, dass sie von einem Anderen ein Kind erwarte; er daraufhin sinngemäß: „Kein Problem, Schatz, ich erkenne es als das meinige an“; immerhin scheinen sich die beiden erst nach dem sündigen Akt kennengelernt zu haben), betört doch von Anbeginn eine mysteriöse, klangsinnliche Atmosphäre.
Zwischen flirrender Ruhe und wogendem Aufruhr – es könnte durchaus auch eine Ruderpartie bei Mondschein sein – gelang es Mäkelä mittels ausladender Gestik, das Allerfeinste aus der ohnehin schon allerfeinsten Streicherriege des Concertgebouworkest zu holen. Die höchsten Töne in den ersten Violinen waren derart blitzsauber, dass man staunte; jedes pizzicato saß astrein; beeindruckende Soli an den ersten Pulten; die Augen der Solobratschistin einfach überall, aufmerksam, dialogisch; und die Arpeggien in den zweiten Violinen zum Ende des Werks, das in D-Dur verklingt, schufen Atmosphäre, dass es eine Freude war.
Das Publikum jubelte schon zur Pause, und das nach Schönberg!
Dann Mahlers Erste – neben der Sechsten das Werk, mit dem ich die Amsterdamer überhaupt erst auf den Radar bekam, damals in den Nullerjahren unter Jansons. Die Holzinstrumente klangen ganz zu Beginn noch ein wenig heiser, doch spätestens bei „Ging heut’ morgen übers Feld“ entstand dann dieser magische Klang, den die Amsterdamer gerade bei Mahler und Bruckner seit mehr als einem Jahrhundert zu zelebrieren imstande sind.
Mäkelä dirigiert energetisch, aber es beeindruckt, wie er in der Lage ist, auch mal nichts zu machen: so etwa beim Aufbau zur Hornfanfare Ende des ersten Satzes. Der zweite Satz klang zu Beginn herrlich derb, die Streicher außergewöhnlich breit, die Hörner schmetterten aufs Göttlichste, und das Trio erklang mit einem Wiener Schmelz, wie man ihn selten hört, authentisch wie eine Sachertorte.
Nach dem berühmten Kontrabass-Solo, Frère Jacques in Moll, stimmt das Orchester in einen scheinbar nicht endenden Trauermarsch ein, bevor dann diese Stelle kommt, Sie wissen schon, Tavernenstimmung, irgendwo zwischen Griechenland und Balkan, es ist hier so gar nicht wienerisch, und man entdeckt in der eigentlich relativ geläufigen Sinfonie plötzlich Neues: Was ist das nur für eine Stelle kurz vor der Reprise, irgendwas mit Harfe und Horn? Nie so gehört. Dann die wunderbar wehklagende Oboe Ivan Podyomovs, überhaupt ist das Holz nun in Topform. Attacca geht’s ins Finale, wie es sich gehört, nun sind wir endgültig in einer Klangpracht angekommen, wie sie nur wenige Orchester zu erschaffen in der Lage sind.
Vor dem Konzert gab es ein anregendes kurzes Gespräch, unter dem Motto „Auf ein Wort“, bei dem Anja Renczikowski dem Dirigenten mitunter Spannendes entlockte: So ist Herbert Blomstedt ein großes Vorbild, und Gastdirigate macht er eigentlich gar nicht so gerne. (Hoffentlich war kein Berliner Philharmoniker im Saal.)
Nach dieser hin- und mitreißenden Aufführung waren mein Begleiter und ich uns einig, dass es an diesem Abend keiner weiteren Töne bedürfe – und zudem der ÖPNV so unzuverlässig ist, dass wir lieber gegen Mitternacht statt mitten in der Nacht zuhause sein wollten. Daher verpassten wir das Late Night-Kammerkonzert mit Klaus Mäkelä am Cello und vier weiteren Mitgliedern des Orchesters.
Dr. Brian Cooper, 22. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Janine Jansen, Violine, Orchestre de Paris Klaus Mäkelä, Dirigent Essen, Philharmonie, 16. März 2023
Guten Tag, Herr Dr. Cooper!
Betr.: „Gurre Lieder, teuer“ – Zitat.
Da habe ich einen Tipp:
Axel Kober (!) feiert in der Duisburger Philharmonie am 9.und 10. Juli 2025 seinen Abschied mit den Gurre-Liedern.
Die teuersten Karten kosten 39.- Euro, und ab 10.- Euro geht es los. Der Vorverkauf hat schon begonnen, einige Karten sind schon verkauft. Ich habe meine schon. 😉
Ihrer Kritik über das Konzert kann ich übrigens nur unterstreichen. Auch in Essen fand ich übrigens das Preis-Niveau mehr als angemessen. Mich wunderte nur, dass bei diesem Spitzenorchester und diesem spannenden Programm doch recht viele Plätze frei blieben. Die Berliner Philharmoniker z.B. spielen nächstes Jahr dort Bruckners 9te, sonst nichts weiter (!), die Sinfonie dauert gerade mal etwa eine Stunde, die Karten sind teurer, und es sind schon deutlich mehr Karten verkauft worden, als für das hier genanntes Konzert. Verstehe wer will.
Mit freundlichen Grüßen,
Jürgen Schemetat
Sehr geehrter Herr Schemetat,
vielen Dank für Ihren Kommentar und den Hinweis auf Duisburg. Super!
Ich verstehe auch nicht, warum ein Spitzenorchester wie das aus Amsterdam die Essener Philharmonie nicht füllt. In Baden-Baden allerdings, zugegeben das größte Haus für Klassik in Deutschland, ist es bei den Osterfestspielen auch nicht immer ausverkauft. Dort spielen die Berliner Philharmoniker natürlich mehrmals (und das noch bis einschließlich 2025), und die Karten sind besonders kostspielig, vor allem für die Opernproduktionen.
In Essen und Köln spielen die Berliner kommenden Mai Mahlers Neunte, in Frankfurt im November am Vorabend einer Tournee Bruckners Fünfte. Auch die ist nicht im klassischen Sinn abendfüllend, aber erfüllend dürfte es allemal werden.
Wenn Sie ein Spitzenorchester hören wollen, bei dem selbst die obersten Preiskategorien beileibe nicht immer dreistellig sind, lege ich Ihnen das Budapest Festival Orchestra ans Herz, das viel reist, offenbar für die Häuser günstig einzukaufen ist und regelmäßig grandiose Abende unter seinem Chef und Mitgründer Iván Fischer gibt.
Ihnen einen herzlichen Gruß,
Brian Cooper
PS: Das Ausrufezeichen nach Axel Kober ist mir nicht entgangen! Es erinnert mich an Jochen Malmsheimers Spielerei mit Namen, die zugleich Imperative sind, etwa Marianne Koch. Und Steffen Seibert, so Malmsheimer, sei sogar ein ganzer Satz.
Sehr geehrter Herr Dr. Cooper!
Vielen, herzlichen Dank für Ihre Antwort und Ihren Geheimntipp. Ich werde Ausschau halten nach dem Budapest Festival Orchestra.
Bei Jochen Malmsheimer fällt mir immer der Gag
„Dickbutter, ein Wort “ ein. 🤣
Mit freundlichen Grüßen,
Jürgen Schemetat