Manchmal darf man sich ruhig selbst kopieren: Als Herausgeber von klassik-begeistert.de gratuliere ich unserem „senior writer“ Lothar Schweitzer nach seinem 80. Geburtstag im April dieses Jahres zu seiner hundertsten Klassikwelt. Alles Gute, Glück, Gelassenheit und Gesundheit, lieber Lothar, und allzeit eine Handbreit Wasser unterm Kiel.
Dank Lothar haben wir eine Autorenaltersspannbreite von 22 bis 80 Jahren. Fast 60 Jahre trennen den Apotheker Lothar von unserem jüngsten Autor, den Studenten Leander Bull. Lothar könnte sein Urgroßvater sein.
Lothars liebevoll erstellte Klassikwelten zeugen von profunder, tiefer Kenntnis der Opernwelt. Lothar verschafft uns immer wieder Einblicke in Zeiten, die jüngeren Klassikliebhabern kaum noch bekannt sind.
Unser senior writer schrieb mir: „Ich bin an einem neunten April geboren, neun ist meine Lieblingszahl, ich tendiere großväterlich erblich belastet zu allem Neuen. Deswegen schreibe ich auch das Binnen-I, obwohl ich die Gender-Philosophie großenteils ablehne, außer beim tiefen e der Altistinnen. Da überkommt mich ein prickelndes Gefühl.“
Lieber Lothar: Glück auf! für 100 weitere Schweitzers Klassikwelten!
Herzlich,
Andreas
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Wie uns in der bisher einzigen L’Orfeo-Inszenierung der Wiener Staatsoper, in der am Anfang Bühne und Auditorium zu einer Einheit verschmelzen und wir gleichsam gemeinsam Orfeos Hochzeit feiern, vor Augen geführt wurde, entstand die Kunstform der Oper aus festlichen Anlässen heraus. Atmosphäre soll die künstlerische Darstellung umgeben. Das passende Fremdwort Ambiente kommt vom lateinischen ambire, was herumgehen heißt. Musik wird in Szene gesetzt.
Heute wird von einer nicht geringen Zahl an Opernfreunden dieses Flair nicht geschätzt, denn die „Regie(rung)“ wird oft abgelehnt. Das Erlebnis einer Oper im Konzertsaal bekommt etwas Oppositionelles. Dabei ist Oper ohne Bühne nichts Außergewöhnliches seit der Erfindung des Grammophons 1887 von Emil Berliner, der übrigens auch an der Weiterentwicklung des Mikrophons maßgeblich beteiligt war.
Natürlich ist der abfällige Ausdruck einer „Konservenmusik“ nicht ganz unberechtigt, fehlt doch ohne Stereotechnik das Raumerlebnis und das Einmalige jeder Aufführung. Aber wir haben viele Bekannte, die fernab einer Stadt mit Theater ihr Zuhause haben und auf diese Weise mit Schallplatten oder Compact Discs daheim einen Opernabend genießen.
Es hört sich paradox an. Wie viele Ring-Abende ich auch gesehen und gehört habe, die beeindruckendste „Götterdämmerung“ erlebte ich als zufälliger Gast einer Familie vor ihrem Fernseher, als eine konzertante Aufführung mit Nilsson und Frick ausgestrahlt wurde.
Für die Aufführung einer Oper bedarf es einer großen Arbeitsgemeinschaft. Deshalb müssen wir froh sein, wenn wir eine Oper auch nur über einen Konzertsaal kennen oder näher kennen lernen. So im Wiener Konzerthaus im Herbst 1960 Paul Hindemiths „Die Harmonie der Welt“ unter der persönlichen Leitung des Komponisten anlässlich seines 65. Geburtstags, drei Jahre nach der Uraufführung im Münchner Prinzregententheater. Sein mit den Armen weit ausholender Dirigierstil war charakteristisch. Nehmen wir das Programmheft in die Hand, tauchen da wieder Namen auf: Carlos Alexander als Johannes Kepler, Evelyn Lear als seine Frau, Ludwig Welter als Kaiser Rudolf II. und Karl Liebl als Wallenstein.
Das Wiener Konzerthaus brachte eine Reihe von Opern konzertant heraus. Die Beweggründe, sie zu besuchen, waren verschiedene. Einmal interessierte uns Falk Struckmann nach seinem Wotan in der Partie des Mathis des Malers. Renée Fleming begeisterte uns als Thaïs in der gleichnamigen Oper von Jules Massenet, eines unsrer Lieblingskomponisten. In Zeiten vor den Über- oder Untertitelungen war der Text bei unbekannteren Opern im Konzertsaal leichter mitlesbar, ohne etwas vom Gesamtkunstwerk zu versäumen.
Von Prokofjews „Krieg und Frieden“ waren wir dann sehr enttäuscht, denn im Libretto vermissten wir die ethisch-religiösen Schlüsselstellen. Aber unser Interesse an einer Aufführung auf der Bühne blieb erhalten. Wie würden die Schlachtenszenen inszeniert werden? Doch eine Aufführung an der MET brachte auch keine Offenbarungen. Alexander Pereira hat zu seiner Wiener Konzerthauszeit (1984-91) als Generalsekretär viel Schwung ins Haus gebracht. Gyögy Ligetis „Le Grand Macabre“ erlebte noch vor seinen szenischen Aufführungen zu den Salzburger Festspielen und an der Oper Graz an diesem Haus seinen erfolgreichen Einstand. Ein historisches Ereignis fand auch im Dezember 1994 statt. Georges Prêtre dirigierte „L’Opéra d’Aran“ von Gilbert Bécaud, der auch eine Hauptrolle sang. Prêtre hatte schon die Uraufführung 1962 am Pariser Théâtre des Champs-Élysées geleitet. Das Stück hat vom Sujet rein gefühlsmäßig Ähnlichkeiten mit „The Lighthouse“ von Peter Maxwell Davies und mit Brittens „Peter Grimes“.
In neuerer Zeit wird dank Weiterentwicklung der Technik eine konzertante Opernaufführung bevorzugt mit Videoeinspielungen im Hintergrund gleichsam untermalt. Für uns nur aus finanzieller oder organisatorischer Sicht eine akzeptable Lösung.
Der Große Saal des Wiener Konzerthauses ist durch seine räumliche Großzügigkeit und Schönheit auch für szenische Aufführungen prädestiniert.
Die Wiener Konzerthausgesellschaft erhielt 1973 die Ehre der europäischen Erstaufführung von Leonard Bernsteins „Mass“, ein „Theaterstück für Sänger, Musiker und Tänzer“. Während der Liturgie kommt es zu einer Krise und die auch buchstäblich körperlich Daniederliegenden werden unerwartet durch einen Knaben, der ein Loblied zur Ehre Gottes beginnt, wieder aufgerichtet. Im Jahr 2018 erlebten wir am gleichen Ort eine konzertante Wiederaufführung. Die Choreografie wurde durch das rhythmische Klatschen des Chores ersetzt. Der Knabensopran musste sich vor seinem alles bestimmenden Auftritt durch die Reihe der Musiker durchschlängeln, kommt neben dem Dirigenten zu stehen und wartet auf seinen Einsatz. Eine überraschende, beeindruckende Wirkung blieb aus.
Ein einer konzertanten Opernaufführung ähnliches Genre ist der Arienabend. Die Sängerin, der Sänger erhält die Chance verschieden geartete Kompositionen an einem Abend mit ihrer/seiner persönlichen Stimme auszudrücken.
Das wirkt leider manchmal aus dem Ganzen eines Werks herausgerissen. Es mangelt die Entwicklung der Figuren, es fehlt die Vorgeschichte. Kunst wird künstlich. So war einmal ein Bassbariton schlecht beraten neben Wotans Abschied und Feuerzauber das ebenso ergreifende „Zu träumen den unmöglichen Traum, zu bekämpfen den unschlagbaren Feind“ (Der Mann von La Mancha) zu wählen. Beide Szenen bilden den Höhe- und den Endpunkt des jeweiligen Werks.
In der Wiener Staatsoper erlebten wir einmal eine Lulu konzertant und wenige Tage darauf erst szenisch. Die Ursache dafür war: Am ersten Abend saßen wir in der Loge ganz nahe der Bühne und über dem Orchester, Proszeniumsloge genannt, in die Partitur vertieft.
Unser Interesse an Bohislav Martinůs Oper „Juliette“ begann mit einer konzertanten Aufführung zu den Salzburger Festspielen. Bis heute konnte uns keine Inszenierung zufriedenstellen, obwohl wir bei diesem surrealistischen Stück eine optische Ergänzung herbeisehnen.
Pjotr Iljitsch Tschaikowskis „Iolanthe“ erlebten wir zum ersten Mal im Moskauer Bolschoi Theater und sie wurde sofort zu einer unsrer Lieblingsopern, so dass es mich mit meiner Tochter fünfzehn Monate später zu einer Aufführung nach Dresden an die Semperoper zog. Es war eine konzertante Aufführung, ohne Angabe eines Regisseurs, obwohl man von einer halbszenischen Produktion sprechen konnte. Im gleichen Jahr besuchten meine Frau und ich nochmals „Iolanthe“ und ebenfalls eine halbszenische Aufführung bei den Salzburger Festspielen. Beide Abende waren ergreifend, ohne dass uns ein Bühnenbild abgegangen wäre.
Es gibt allerdings auch den Pendelausschlag in die gegensätzliche Richtung. Opern, Operetten und Musicals am oder im See, Open-Air-Veranstaltungen bei Steinbrüchen. Hier überschießt die Optik eines pompösen Bühnenbilds, manchmal sogar wie in „Ariadne auf Naxos“ erwähnt mit abschließendem Feuerwerk, das Gesamtkunstwerk. Die Oper erhält Show- und Varietécharakter. Aber auch Gesang und Orchestermusik ertönen durch die notwendige Mikrofontechnik wie aus den Wolken. Das wird merklich von einem breiteren Publikum angenommen. Ob dieses dann auch Opernhäuser besuchen wird? Die Werke, welche sich für ein solches Unternehmen eignen, engen natürlich das Repertoire ein.
Dass „Turandot“, „Aida“ und „Carmen“ dafür passen, ist keine Frage.
Sogar von der intimeren „Madama Butterfly“ gab es im Bodensee zu den Bregenzer Festspielen eine beachtliche Inszenierung.
Aber für uns bedeutet Operngesang noch immer das Wunder der menschlichen Stimme in einem oben abgedeckten Saal ohne künstliche Verstärkung.
Welche Opern können wir uns konzertant gespielt nicht vorstellen? Wie schon besprochen „Mass“. Beim kleinen Kreis surrealistischer Opern fehlte ebenfalls etwas. Phantastische Opern wie „Les contes d’Hoffmann“. Barocke Opern werden gerade durch moderne Inszenierungen wieder populär. Nach den Bühnenbildern von Günther Schneider-Siemssen und Yannis Kokkos auch nicht „Pelléas et Mélisande“. Und auf keinen Fall „Così fan tutte“.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 31. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Lieber Andreas!
Herzlichen Dank für Deine Worte, die spürbar von Herzen kommen. Du hast mir auch einmal schon durch Deine journalistische Erfahrung Zuversicht gegeben, als ich fürchtete, dass mir Stoff und Themen ausgehen könnten. Nun, derzeit sind fünf Feuilletons in Arbeit.
Wird die Oper das bleiben, was sie Sylvia und mir bedeutet? Das Voranschreiten von Mikroports bereitet uns Sorge. Wir sehen die Opernkunst noch sportlich. Eine Stimme für sich füllt den Raum. Deswegen haben wir einige Theater bereits lange nicht mehr besucht. Auch Open-Air-Veranstaltungen fehlen in unsren Berichten. In einem unsrer ersten Berichte („Show Boat“ in Baden bei Wien) widmeten wir diesem Thema breiten Raum.
Es war ein schöner Zufall Dich bei „Cavalleria“ und „Pagliacci“ in der Wiener Staatsoper getroffen zu haben. Hoch lebe „Klassik begeistert“!
Lothar und Sylvia
Autoren kritisieren ihren eigenen Beitrag…
Graz war dem verschlafenen Wien zuvorgekommen. Bereits 1981, drei Jahre nach der Uraufführung in Stockholm, brachte ein Gastspiel aus Nürnberg „Le Grand Macabre“ anlässlich des Steirischen Herbstes nach Österreich. Wir jedoch sahen diese Oper erst später in Graz.
Lothar Schweitzer