Titelbild: Klavierauszug Schott „Mathis der Maler“
Am Anfang meiner Opernbesuche standen nach einer noch zu schweren „Ariadne auf Naxos“ Puccinis „Tosca“ und „Madama Butterfly“. Ich bin selbst verwundert, dass ich als viertes Opernerlebnis sehr zum Erstaunen meines Musiklehrers ein Werk von Paul Hindemith wählte.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Wahrscheinlich war Anstoß der Reiz einer feierlichen österreichischen Erstaufführung und der schön timbrierte Paul Schöffler, der Musiklehrer im Vorspiel der „Ariadne auf Naxos“, als Mathis der Maler. Mein noch ungeübter Eindruck: Wie können sich die Sängerinnen diese Noten alle merken? Für den Bassbariton Schöffler schien die Partie zu hoch zu liegen. Ich habe eine Karikatur vor Augen, in der eine Schildkröte den armen Sänger in den Finger beißt. Auf deren Panzer ist „Indisposition“ aufgedruckt.
Durch das Sammeln von LP-Opernquerschnitten – bald kein Grünschnabel mehr – wurde es zu einem besonderen Erlebnis, die Stars der Schallplatten leibhaftig auf der Bühne der Wiener Staatsoper zu erleben. Aufregend war der erste Auftritt des Baritonkrösus Aldo Protti als Jago, später viele Male als Rigoletto live.
Die Werbefotos in den Auslagen von Foto Fayer machten mich auf die Mezzosopranistin Giulietta Simionato neugierig. Ein markantes Porträt, begeisterte Kritiken und auch immer wieder in LP-Werbeprospekten genannt, nun endlich live in „Don Carlos“ als Eboli mit „Nei giardin del bello saracin ostello“ und „O mia regina!“.
„Der Rosenkavalier“ war der Kristallisationspunkt für meine Richard-Strauss-Liebe. Wieder geschah die Anregung durch einen Schallplattenquerschnitt der Fima Decca. Die expressionistische „Elektra“ war beim ersten Mal noch ein Schock-Erlebnis. „Der Rosenkavalier“, „Salome“ und „Ariadne auf Naxos“ sind für meine Frau Sylvia und mich mittlerweile die am öftesten gesehenen Opern überhaupt. Zu den Höhepunkten gehört auch die „Capriccio“-Aufführung der Wiener Staatsoper am 5. Januar 1961 mit Elisabeth Schwarzkopf. Der beeindruckendste aller Komponisten im Vorspiel zu „Ariadne auf Naxos“ war die Französin Sophie Koch, bei den Comprimarii der interessanteste Sänger beim Lever der Feldmarschallin Arturo Sergi an der Frankfurter Oper, als er in seinem Gehabe als etwas versponnener Künstler auftrat.
Das Gastspiel der Württembergischen Staatsoper Stuttgart war Anlass für den ersten Wagner-Abend. „Parsifal“ zog ich der mir damals noch weniger sagenden „Jenůfa“ des mährischen Komponisten Leoš Janáček vor. Seitdem „sammelte“ ich in meinen letzten zwei Gymnasialjahren Wagner-Opernabende.
Der Beginn des Universitätsstudiums mit seinen neuen Eindrücken und Erfahrungen zog das Interesse für Neues nach sich. Zum Zeichen für diese Phase wurde das impressionistische Werk Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“.
Zu Benjamin Britten kam ich auf Umwegen. In der Saison 1960/61 begeisterte der Charaktertenor Gerhard Stolze als Mime, David und Orff’scher Ödipus. In der nächsten Saison wurde es zunächst still um ihn. Ich erinnere mich in der Zeitung gelesen zu haben, dass er durch einen Zeckenbiss an einer damals erst allmählich bekannt werdenden FSME-Infektion erkrankt war und nur dank seiner guten Atemstütze durch das Zwerchfell einer künstlichen Beatmung („Eiserne Lunge“ genannt) entgangen war.
In seiner Biografie steht nichts davon. Dafür aber, dass er schon Ende der Fünfzigerjahre an Kinderlähmung erkrankt war und nach seiner Erholung für den Herodes noch auf die Bühne getragen werden musste. Es könnte sein, dass sich das gelesene Interview auf einen länger zurückliegenden Krankheitsfall bezogen hat, aber ganz sicher war nicht von einer Kinderlähmung, sondern von einem FSME-Fall die Rede. Jedenfalls kam mir seine Stimme im Herbst 1962 als Oberon kleiner vor und war weder in Countertenor- resp. Altlage gesungen, wo er doch noch im „Ödipus der Tyrann“ durch teilweisen Einsatz des Falsetts brillierte.
An demselben Abend lernte ich Gundula Janowitz in der Partie der Helena lieben. Bald darauf traten die beiden in der Monteverdi-Oper „L’incoronazione di Poppea“ auf. Dieses Frühwerk der Opernliteratur war hausintern eine Sensation. Der hörbar erholte Stolze als Nero und die Janowitz als bezaubernde Drusilla. Anlass Gundula Janowitz in altbekannten Opern als Fiordiligi, als Micaëla, als Marie, als Agathe und als Ariadne zu genießen.
Unter meinen ebenfalls opernbegeisterten Freunden soll ich der Einzige gewesen sein, der wegen Ludwig Welter eine Opernvorstellung besucht. In Rossinis „Angelina“ (später unter dem Titel „La Cenerentola“) war sein neben viel Prominenz (Christa Ludwig, Walter Berry, Karl Dönch, Waldemar Kmentt) noch unbekannter Name als weiser Alidoro gleichsam eine Zufallsbekanntschaft.
Mir gefiel einfach sein samtener Bass als Sarastro, Osmin, Don Alfonso, als die Commedia dell’arte mit dunklen Tönen abrundender Truffaldin und als „Peter Squenz“ in der noch deutschsprachigen Erstaufführung von Brittens „Ein Sommernachtstraum“ an der Wiener Staatsoper.
Als Gast für kurze Zeit in einer fremden Stadt gehört für einen Opernfan der Besuch der Oper zum Sightseeing. Da bleibt die Auswahl begrenzt. Der Zufall wollte es, dass wir deshalb über unser Interesse hinaus häufig „La Cenerentola“ wählen mussten – und immer mehr Sympathie für dieses Rossini-Werk entwickelten. Durch das Münchner Nationaltheater und „Jenůfa“ begannen übrigens meine Janáček-Erfahrungen. Hildegard Hillebrecht in der Titelrolle, Astrid Varnay als Küsterin, ein junger aufstrebender Heldentenor William Cochran und der Dirigent Rafael Kubelík sind in bleibender Erinnerung.
Ein Risiko besteht immer, wenn man einer Sängerin, einem Sänger gleichsam als Schlachtenbummler nachfährt. Hoffentlich gibt es keine Absage oder Indisposition. Beruhigt sind wir fürs Erste, wenn der Vorhang aufgeht. Geklappt hat es bei der Malfitano als Kát’a Kabanová, wieder einmal in München. Auch bei der Garanča als Carmen im dreimal so weit weg liegenden Riga.
Glyndebourne, das Mekka der Opernliebhaber. Der Organisator der Opernreise wollte uns für das Festival 1996 neben der „Arabella“ hartnäckig die uns unbekannte Rossini-Oper „Ermione“ einreden, doch wir bestanden auf „Lulu“, sind doch beide Opern interessante Werke der Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die vieles verschieden und doch wieder einiges gemeinsam haben, wie zum Beispiel das Zusammenbringen von Partnern.
Es ist von Vorteil, mit einem Opernsänger befreundet zu sein, der uns einmal zu Jake Heggies „Dead Man Walking“ an seiner Wirkungsstätte, der Semperoper in Dresden, animierte. In dem Werk wird nicht einseitig nur das Thema Todesstrafe behandelt, sondern es wird auch den seelischen Nöten der Angehörigen der Opfer nachgegangen.
Auf einer Opernreise nach Moskau machten wir eine Entdeckung. „Iolantha“ wurde zur unsrer liebsten Tschaikowski-Oper, mit der wir uns an verschiedenen Opernhäusern erneut befassten. Eine konzertante Aufführung von Prokofieffs Oper „Krieg und Frieden“ nach Tolstois gleichnamigen Roman machte uns neugierig auf eine szenische Realisierung. Erwartungsvoll flogen wir nach Paris, doch an der Opéra Bastille streikte das Personal. An der MET mussten wir dann später erkennen, dass unsre Fantasien keine Erfüllung fanden.
Kann eine interessante Inszenierung für einen Besuch ausschlaggebend werden? Wir forschten in unsrer Vergangenheit nach. Selbst bei der Barlog-Inszenierung der ein halbes Jahrhundert erlebenden Jugendstil-Salome mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Jürgen Rose war der Beweggrund, wieder einmal diese Strauss-Oper zu erleben oder verschiedene Salomes zu hören und zu vergleichen.
Nach Düsseldorf geflogen sind wir trotz bereits drohender Pandemie wegen des Rollendebüts einer Sängerin, nicht ahnend die bislang interessanteste Inszenierung zu erleben.
Nach Tatjana Gürbaca verarbeitet Salome ihre Enttäuschung, indem sie sich ausersehen fühlt die apokalyptischen Visionen des Propheten an der maroden Partygesellschaft zu vollstrecken.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 23. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 118: Wir sind Massenet-Fans klassik-begeistert.de, 9. Juli 2024