Eugene Amesmann als Franz, Bühne Baden 2009 © Christoph Breneis
Dieser Beitrag kann als Ergänzung von Schweitzers Klassikwelt Nummer 53 „Comprimarie und Comprimarii – es klingen die großen Töne auch im Kleinen“ gesehen werden. Unabhängig davon können Sie auch mit dieser Betrachtung beginnen.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Kennen Sie die Rolle des Franz? Wir helfen Ihnen weiter: Und die von Andres, Cochenille und Pitichinaccio? Im Original auf Französisch Frantz geschrieben. Eine Quadrupelpartie für Tenor, im Schatten der mächtigen Quadrupelpartie für Bariton. Richtig! „Les contes d’Hoffmann“.
Warum Quadrupelpartien? Der literarische Grund ist, wenn vier Figuren die Facetten eines Charakters sind wie Lindorf, Coppelius, Dr. Mirakel und Dapertutto. Dazu kommt noch der praktische Grund, dass eine Rolle für einen ersten Sänger des Ensembles zu klein wäre. Bei vielen kleinen Rollen müssten vielleicht solistische Aufgaben Chormitglieder erfüllen, was gewiss manchmal ganz reizvoll sein kann.
Bei „Hoffmanns Erzählungen“ ist der Andres (oder Andreas, frz. Andrès) der bestechliche, treulose Bote der Sängerin Stella, der einiges ins Rollen bringt, aber sein Text besteht aus wenigen, teilweise sogar nur Einwort-Sätzen. Cochenille ist ein Diener im Hause Spalanzanis, der bloß den Gästen Ankündigungen macht und eigentlich unnötig ist. Der krumme Pitichinaccio ist ebenfalls ein Stichwortgeber. Es stellt sich aber nach seiner Ermordung heraus, dass die Kurtisane Giulietta einzig für ihn Gefühle hatte.
Auch Cochenille und Franz haben körperliche Beeinträchtigungen, so dass sie mit Letzterem eine Einheit bilden. Cochenille stottert überflüssigerweise. Wir werden an Don Curzio in „Le nozze di Figaro“ erinnert. Heute eigentlich ein No-Go. Die Schwerhörigkeit des Franz im hochmusikalischen Haus Krespel, der Vater ist Geigenbauer, die Mutter war Sängerin und die Tochter hat dieses Talent geerbt, hat seinen Sinn. Er versucht fast taub und ohne Stimmbegabung zu singen. Sein Charaktertenor wird, je höher er singt, immer dünner. Kein Schmelz, kein Glanz, aber eine Bravourarie, die mit dem einzigartigen Peter Klein am 2. Januar 1959 stürmischen Beifall erhielt.
Das ist mit zirzensischen Clown-Nummern am Reck zu vergleichen, die noch mehr Bewunderung verdienen als Trapezkünstler, weil sie keinen Schwung zu Hilfe nehmen können. Zu bemerken ist, dass in den meisten Opernführern in den Inhaltsangaben Cochenille und auch nicht der Franz eine Erwähnung finden.
Der in Wien mit dem Kosenamen Zamperl als Alfredo, Don Carlo, als Pinkerton, Rodolfo, Cavaradossi und sogar als Florestan sehr beliebte Giuseppe Zampieri sang auch die Episodenrollen des Sängers während des Levers der Feldmarschallin und des italienischen Sängers in „Capriccio“. Eine gute Gelegenheit ihn auch in Richard Strauss-Opern zu erleben.
Giuseppe Zampieri als Pinkerton, seine an der Wiener Staatsoper siebzigmal und meistgesungene Rolle © Foto Fayer, Wien
Im Deutschunterricht wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass es als eine Schwäche Goethes zu werten ist, dass kleine Rollen ohne Ausarbeitung skizziert bleiben. So Valentins unrealistischer Abschied „… Soldat und brav“. Bei Verdi ist manchmal dasselbe Problem. Neuengagierten und Mitgliedern des Opernstudios ist es hoch anzurechnen, wenn sie in kurzen, musikalisch wenig interessanten Passagen verstehen von ihrem Talent Zeugnis abzulegen. Auch der Oberpriester des Baals hätte in „Nabucco“ als Gegenspieler des Hohepriesters musikalisch mehr Gewicht erhalten sollen, ähnlich dem Verhältnis zwischen König Philipp und dem Großinquisitor.
In der Erstaufführung von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ an der Wiener Staatsoper zur Adventszeit 1894, ein Jahr nach der Weltpremiere am Weimarer Hoftheater, waren das Sandmännchen (Irene Abendroth) und das Taumännchen (Marie Lederer) auf zwei Damen aufgeteilt.
Wir konnten nachforschen, dass Irene Abendroth im Frühjahr desselben Jahrs in der Erstaufführung von Verdis „Falstaff“ im Hof- und Nationaltheater München die Alice Ford sang. Nach Unstimmigkeiten mit dem Operndirektor Gustav Mahler verließ sie Wien fünf Jahre später und machte am Königlichen Hoftheater in Dresden Karriere. Zur Zufriedenheit des Komponisten sang sie dort in der deutschen Erstaufführung der „Tosca“ die Titelrolle. Ein typisch österreichisches Schicksal.
Marie Lederer war in den knapp zwei Jahren ihres Wirkens an der Staatsoper größtenteils als Comprimaria eingesetzt. In 33 Vorstellungen als Taumännchen, gefolgt von vierzehn Vorstellungen als Lola (Cavalleria rusticana). Humperdincks populärste Oper war damals noch kein nur saisonal herangezogenes Stück. Am Christtag 1895 hatte Irene Abendroth Hänsel und Gretel Sand in die Augen zu streuen und am noch kühlen Morgen sie als Taumännchen wieder zu wecken.
In der Neuproduktion am Vorabend des Heiligen Abends 1922 war Sand- und Taumännchen in Personalunion Luise Helletsgruber. Nach Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper in der Volksoper 1945 wurden die Rollen in der Premiere der dritten Produktion besetzungsmäßig wieder getrennt. Seit einer Neueinstudierung noch vor der Wiedereröffnung der Staatsoper am Ring sang das Taumännchen Lieselotte Maikl bei Aufgehen des Mondes auch das Sandmännchen. Über sechzig Jahre mussten vergehen, bis diese Märchenoper neben der zweitgrößten Oper am Gürtel wieder im ersten Haus erklang. Die Kostümierung des Taumännchens (wieder in Personalunion mit dem Sandmännchen) wirkte aufgemotzt und feminin. Wir fragen uns, ob mit einem zusätzlichen Aufmerksam-Machen eine Aufwertung beabsichtigt wurde.
Weihnachten 2007 erlebten wir in New York. Wir besuchten an der MET „Hansel and Gretel.“ Bei der aktuellen Durchsicht des Materials entdeckten wir, dass sich unser Taumännchen mit Namen Lisette Oropesa zu unsrer besten je gehörten Konstanze mit betörendem, vollem und rundem Klang und vollendeten Koloraturen entwickelt hat. Wir erlebten Ihr Hausdebüt an der Wiener Staatsoper im Oktober 2020.
Sagt Ihnen der Name Roucher etwas? Er ist der treue, rührende Freund von Andrea Chénier und sollte trotz kleiner Partie auf Augenhöhe zum ersten Tenor stehen. Nur würde er dann für Carlo Gérard, den zeitweiligen Gegenspieler des Dichters, ausgewählt werden. Das Spielplanarchiv der Wiener Staatsoper bestätigt es. Seit 1958 (dem Jahr unseres beginnenden Interesses an Opern) hat noch kein Sänger den Sprung vom Roucher zum Gérard geschafft.
Auch wenn die Arabella eine Traumrolle der jugendlich-dramatischen Sopranistinnen ist, jedes Mal werden wir besonders davon berührt, dass endlich Zdenko Zdenka, die Schwester Arabellas, sein darf und mit dem Mann ihres Herzens zusammenkommt.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 17. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 53: Comprimarie e Comprimarii, klassik-begeistert.de