Foto: Christoph Bosch
„Mit zunehmendem Alter wird man milder.“ Diesen Ausspruch eines Professors knapp vor seinem Ausscheiden aus dem Universitätsdienst ist mir nach einer Prüfung im Gedächtnis geblieben und wir glauben als Opernkritiker heute dieselbe Erfahrung zu machen.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Für meine Frau und mich galt aber von Anfang an bezüglich akustischen Missfallenskundgebungen als bindende Regel: Niemals gegenüber Frauen und bei Männern nur, wenn es sich um eine selbst gewählte falsche Partie handelt. So geschehen, als ein Bariton als Sarastro auftrat und ein verdienter Kurwenal als Großinquisitor. Wenn der Wotan in der „Walküre“ nicht die Wotanstiefe besitzt, fehlt uns bei ansonsten ausgezeichneter Besetzung etwas und wir gehen unzufrieden nach Hause.
Seit der Erfindung von Tonaufnahmen singt eine Sängerin, ein Sänger auf der Bühne gegen ihre, seine eigene Aufnahme, die durch die Kunst der Schnitte perfektioniert wird. Im Opernsaal erleben wir die Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit der Künstlerin, des Künstlers. Es kommt ein Moment der Unvorhersehbarkeit herein, positiv gesehen der Reiz des Augenblicks, der aus der Partitur nicht herauszulesen ist. Der Theater- und Medienwissenschafter Dr. Clemens Risi schildert als das Schöne einer Opernaufführung das Unwiederholbare: „Ein unerwartet missglückter Ton. Die Spannung wächst, die Sorge, es könnte sich wiederholen. Umso kostbarer werden dann die geglückten Töne, die man vor der Überraschung eigentlich erwartet hatte, nun aber nicht mehr mit dieser Selbstverständlichkeit.“

Renée Flemings „Die Biografie meiner Stimme“ ist nicht nur für angehende Sängerinnen und Sänger zu empfehlen, wir wurden auch als Rezensenten beeinflusst. Sie rät beim Singen einen Spielraum für Fehler einzukalkulieren, „sonst denken Sie weiter über diesen Fehler nach und dann ist die Vorstellung ruiniert.“

Zeit unseres Lebens wird uns die noble Ansage Alexander Pereiras im Gedächtnis bleiben, als er den an einer schweren Infektion leidenden Günther Groissböck als Baron Ochs auf Lerchenau zu den Salzburger Festspielen ansagen musste und das Publikum um „ermutigendes Mitgehen“ bat.

Ein alter Opernhase hat mich als jungen Opernfan aufgeklärt, dass ein Sänger Buhs einem dürftig dahinplätschernden Applaus vorzieht. Das lässt sich durch eine gesteigerte Aktivität des vegetativen Nervensystems verstehen. Eine der positiven Auswirkungen von Stress.
Der Dirigent und das Leading Team leiden nicht an der natürlichen Verletzbarkeit der Stimme und Regisseur und Ausstatter sind noch dazu selten mit unvorhergesehenen Momenten konfrontiert. Hier darf strenger und hörbarer Unmut geäußert werden. Allerdings kann im Sinn von Hugo von Hofmannsthal das Schöpferische erst allmählich begriffen werden. Manche Inszenierungen erfahren erst bei den Wiederaufnahmen eine allumfassende Würdigung.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 29. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 135: 11 aus 45 klassik-begeistert.de, 15. April 2025