Foto: Claire und Olivier Messiaen (Privatsammlung Nigel Simeone)
„Unsres Erachtens lassen die „Gedichte für Mi“ eine nicht alltägliche Lebenspartnerschaft der beiden erkennen. Die Eheleute Messiaen besaßen eine Art von Heiligkeit, die auf keinen Fall zur Nachahmung zu empfehlen ist.“
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Ein heute selten in Konzertsälen zu erlebendes Werk. Im Herbst 2009 hatte Renée Fleming ihren anspruchsvollen Liederabend (Werke von Henri Dutilleux, Richard Strauss, Brad Mehldau) im Großen Saal des Wiener Musikvereins mit leider nur fünf der neun Lieder dieses Zyklus von Olivier Messiaen eingeleitet und damit Mut bewiesen. Bedauerlicherweise sind wir auf diesen Abend nicht aufmerksam geworden und haben ihn versäumt. Wir konnten uns nur insofern trösten, dass der erste Teil der „Poèmes pour Mi“ der Verkürzung zum Opfer fiel, wobei gerade das erste Lied „Action de grâces“ („Gnadenakt“) mit seinem schwelgerischen Alléluia zum Schluss einen hinreißenderen ersten Eindruck hinterlassen hätte als das erste Lied des zweiten Teils „L’épouse“. Dieses paraphrasiert aus dem mit typisch paulinischer Schwerfälligkeit geschriebenen Brief an die Gemeinde von Ephesos die eheliche Liebesbeziehung als Analogie zu Christi Beziehung zur Kirche. Aber „Action des grâces“ war wahrscheinlich unsrer gründlichen und gewissenhaften Künstlerin auch in der Klavierfassung zu sehr für einen dramatischen Sopran gedacht erschienen.
Ohne in analytische Details eingehen zu wollen, hatten wir früher beim Hören der Schallplatte die Vision, durch eine stille Gasse zu gehen und aus einem geöffneten Fenster Klavierspiel und eine in die Atmosphäre sich weitende weibliche Stimme zu vernehmen.
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Jahrzehnte später empfinden wir den Pianopart, den der Komponist selbst, also authentisch interpretiert, kritisch. „Sein“ Instrument bleibt die Orgel, die er sonntäglich bescheiden in der Trinité-Kirche von Paris spielte, ohne dass die Gottesdienstbesucher ahnten, welche Persönlichkeit da oben die Register bediente.
Der Sopranistin Lise Arséguet zollen wir Bewunderung, wenn sie das Alléluia anstimmt. Ich hatte früher die Möglichkeit, diese Stelle über zwei leere, unmöblierte Räume hinweg zu genießen, indem ich mich in den hintersten Raum der noch nicht komplett eingerichteten Wohnung begab.
Wir entschieden, über die „Poèmes pour Mi“ rein aus dem Gedächtnis heraus zu schreiben, also von vergangenen Hörerlebnissen und unsrer damaligen Gestimmtheit ausgehend und nicht vom Wiederanhören der letzten Zeit. Komprimiert zur Sprache kommen sollen die sogenannten subjektiven Highlights der Liedersammlung, die jahrzehntelang bei der Erinnerung an Messiaen und sein Werk in uns erklungen sind, also eine beabsichtigte Auswahl und nicht der komplette Zyklus.
Wie der Name ahnen lässt, hat Messiaen dieses Opus einem weiblichen Wesen gewidmet, das er zärtlich und gleichzeitig verhüllend mit dem Kosenamen anspricht. Es handelt sich um Claire Delbos (*1906). Aufgefallen ist sie dem jungen Messiaen (*1908) durch ihre Kunstfertigkeit auf der Violine, sie gaben gemeinsam Konzerte in Paris in den frühen Dreißigerjahren und heirateten am 22. Juni 1932. Im vierten Ehejahr schrieb und vertonte er die Lieder. In den dazwischen liegenden vier Jahren litt ihre Ehe durch mehrere Fehlgeburten, bis endlich 1937 ihr Sohn Pascal geboren wurde. Darauf portraitierte Messiaen sie als kleine Familie in seinen „Chants de terre et de ciel“.
Die „Poèmes pour Mi“ sind ein rätselhaftes, geheimnisvolles Werk. Es fehlt im Gegensatz zum deutschen Liedschaffen die anheimelnde Atmosphäre. Aber auch mit den Liedkompositionen seines verehrten Claude Debussy haben sie wenig gemein.
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Der Komponist einer Oper über Saint François d’Assise eröffnet mit einem Dankgebet, das zunächst an den Sonnengesang des Heiligen Franziskus erinnert, doch bald wechselt die Dankbarkeit für die Geschenke der Natur zum Dank für seine „Mi“. Ihre Beziehung erhält die Metapher mit dem Vers „Wie die Welle mit der Welle vereint ist“. Was nachher eigenartig berührt, dass das Leibliche nicht als vermittelndes, berührendes Element, sondern nur in seiner zukünftigen Verklärung betrachtet wird. Vor dem abschließenden Alléluia heißt es: „Alles hast Du mir gegeben.“ Und in Anspielung an das letzte Abendmahl und Christi Hingabe: „Und Du selbst hast Dich mir gegeben.“ Das erinnert an die unredigierte, vollständige Fassung des „Sirenenklangs“, wo die Beschreibung der sinnlichen Freude in die Feststellung mündet: „Bild eines Erntefests: Früchte, Wein, Musik, Rausch der Sinne. Um wie viel schöner ist es noch zu wissen, dass Du unser Gott bist.“
Von dem achtzeiligen Gedicht „Paysage“ („Landschaft“) prägte sich in uns unauslöschlich der sich in der vierten und in der letzten Zeile wiederholende Beginn ein: „Le lac comme un gros bijou bleu.“ („Der See wie ein großes blaues Juwel.“) Die Verszeile zwei und drei sprechen von einer staubigen, beschwerlichen Straße (dem Lebensweg?), bis wieder beruhigend von dem blauen See wie von einem Schmuckstück oder einem Heiligtum gesungen wird. Und dann steht „sie“ am See, wird von unserem Dichter nicht zärtlich mit „Du“, sondern in der dritten Person genannt. Mit der Hand schützt sie ihre Augen vor dem Sonnenlicht. Es wird nicht klar, ob ihr Lächeln traumverloren erscheint oder ihm gilt.
„La maison“. Messiaen sieht in den Augen seiner geliebten Mi, dass sie dieses Haus verlassen werden. Und Mis Augen sprechen auch davon, dass sie ihre Körper verlassen werden. Wie kommt ein junger Ehemann auf solche Gedanken? Erinnern wir uns, dass ihre ersten Ehejahre von Fehlgeburten überschattet waren. Tröstend heißt es in der zweiten Strophe, dass alle diese Schmerzensbilder, die sich in Claires Augen einprägen, sie nicht mehr wiederfinden werden, „in reinen, jungen, ewig strahlenden Körpern“. So befremdend wir am Anfang Messiaens Gedanken empfanden, der gemeinsame Lebenskampf wird im zweiten Teil des Zyklus in „Les deux guerriers“ („Die beiden Krieger“) noch härter beschrieben. Aus Zweien sind sie nun eins geworden, aber als geharnischte Krieger. „Dein Auge und mein Auge“ (Singular! Anm.) zwischen marschierenden Statuen.“ Zwar heißt es weiter: „Wir ächzen.“ Dann jedoch: „Hör mich, ich bin deine beiden Kinder, mein Gott!“ Der Sopran bekommt in diesem Stück männliche Züge.
Das Lied Nummer VI „Ta voix“ („Deine Stimme“) ist das einzige, das schon im Titel direkt an seine Mi gerichtet ist. Es wird am Anfang poetisch von einem Fenster gesprochen, „das sich auf einen Nachmittag hin öffnet“ und „auf deine frische Stimme“, die mit einem erwachenden Frühlingsvogel in Verbindung gebracht wird. Vögel haben bei Messiaen immer etwas Metaphysisches an sich. Die Bildsprache ist Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ entsprungen. Dort schwärmt Pelléas von der Stimme seiner Geliebten, die so frisch klingt, als wäre sie im Frühling übers Meer gekommen. Aber Messiaen versteigt sich noch viel mehr ins Metaphysische. In der zweiten Strophe sieht er in seiner Fantasie „sich das Fenster auf die Ewigkeit hin öffnen“ und seine Frau in verklärter Schönheit im Chor der Engel „zum Ruhm der Heiligen Dreifaltigkeit die Stimme erheben“.
Wir schließen mit dem Lied, das uns ein Rätsel aufgibt. Das Lied trägt den Titel „Le collier“ und beginnt gleichsam mit einem Natureindruck „Gefesselter Frühling, leichter Morgen-Regenbogen“, um unvermutet im zweiten Vers die Sängerin zuerst exaltiert ausrufen zu lassen: „Ah! mon collier!“ und darauf glücklich und erleichtert: „Ah! mon collier!“, als hätte sie diese Halskette schon lange gesucht. Es folgt eine Beschreibung des Schmuckstücks im Genitiv substantivischer Attribute. Die Halskette der Erneuerung, des Lächelns und der Gnade, dann beifügend erfahren wir, dass es sich um eine orientalische Kette handelt, und zum Schluss, dass sie vielfarbig gewählt ist, mit harten skurrilen Perlen.
In der dritten zweizeiligen Strophe taucht wieder die Umwelt auf. Eine gewellte Landschaft, die sich – wir lesen richtig – der frischen Morgenluft anschmiegt und nicht umgekehrt. Gefolgt von dem wiederholten Ruf nach der Halskette. Darauf endet das Lied langsam in feierlichem Ton: „Deine beiden Arme um meinen Hals“ und nachklingend: „heute Morgen.“
Bevor ich Einsicht in den Text nahm, hörte ich statt „Tes deux bras“ „Les deux bras“, was dem Ganzen einen anderen Sinn gab. Das dinglich Statische der Halskette bekam durch das Anlegen um den Hals gleichsam eine neue, lebendige Dimension. Jetzt ist dafür die Frage aufgeworfen, welche Beziehung zwischen Mis Armen um den Hals des Mannes und der vorher gepriesenen Halskette besteht.
Ihr Eheglück war von kurzer Dauer. Wenige Jahre nach der Geburt ihres Sohns erkrankte Claire Messiaen an fortschreitendem Gedächtnisverlust und wurde ein Pflegefall in einem Sanatorium bis zu ihrem Tod im Jahr 1959. Schon bald nach Claires schwerer Erkrankung lernte Olivier Yvonne Loriod, eine begabte Pianistin, kennen, der er die Moderne nahebrachte. Er lebte mit seinem Sohn Pascal allein und litt unter dem Verzicht und seelischer Einsamkeit. Zwei Jahre nach dem Tod von Claire heiratete er seine ehemalige Schülerin.
Olivier Messiaen blieb zeitlebens auch Freunden gegenüber verschlossen, was Claire, ihr Lebensschicksal und ihre gemeinsame Ehe betraf. Immer wieder wurde von Musikwissenschaftlern wie Antoine Goléa versucht, ob die „Poèmes pour Mi“ ein wenig Aufschluss geben könnten, wie ihr gemeinsames Leben wirklich war. Theo Hirsbrunner präzisiert in seiner Biografie über Olivier Messiaen: Die „Poèmes“ seien nicht das empirische Leben selbst, sondern Kunst, die das Empfinden überhöht.
Unsres Erachtens lassen die „Gedichte für Mi“ schon eine nicht alltägliche Lebenspartnerschaft der beiden erkennen. Die Eheleute besaßen eine Art von Heiligkeit, die auf keinen Fall zur Nachahmung zu empfehlen ist. Ihre Beziehung kann durchaus als eine oft mühsame und verwickelte gesehen werden. Ohne einen ursächlichen Zusammenhang zwischen ihrer Art zu leben und Claires schwerer Erkrankung konstruieren zu wollen, was einmal so weit ging, dass man in der Literatur Olivier Messiaen mehr oder minder direkt eine Schuld an Claires Krankheit gab, können die „Poèmes pour Mi“ als zeichenhaft für beider Lebensschicksal gedeutet werden. Die hier offenbar werdenden Gedanken und der tragische Tod Claires stehen in keinem ursächlichen Zusammenhang, sind aber vergleichbar einem astrologisch-deterministischen Gesamtbild.
In der Privatsammlung Nigel Simeone haben wir ein besonders sprechendes Foto für unsren Beitrag entdeckt.
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Lothar und Sylvia Schweitzer, 9. März 2021, für
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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
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