von Lothar und Sylvia Schweitzer
Dort, wo einst in nächster Nähe die Wiener Stadtmauer verlief und die Wiener während der Türkenbelagerung als Sonntagsvergnügen neugierig auf die Mauer „Türkenschauen“ gingen, befand sich in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts im sogenannten Melker Hof das „Schallplattengeschäft mit Antiquariat Teuchtler“. Zu abendlicher Stunde trafen sich regelmäßig im Stockwerk darüber die Gigli- und die Carusoanhänger und wetteiferten anhand der aufgelegten Schallplatten.
Uns wurde dort bei einem Besuch des Geschäfts eine Sängerin mittels einer Schellackplatte nahe gebracht, deren Namen wir viele Jahre später bei einer Rezension über die Oper „Die Weiden“ hoch hielten. Der Komponist Johannes Maria Staud gibt in einer Szene des sechsten und letzten Bilds die Anweisung: „Die Stimme scheint über dem Orchester richtiggehend zu schweben.“ Wir merkten an: „Nun ja, eine so richtig schwebende Stimme kennen wir nur von Tonträgern mit der Galli-Curci.“
„Serenata“ von Tosti. Das italienische Adjektiv sereno bedeutet klar, heiter. Meteorologisch gesehen ein wolkenloser Himmel, volksetymologisch verbinden wir mit „serata“ und stellen uns ein Ständchen an einem sternenklaren Abend vor. Aber nicht Beniamino Gigli oder Tito Schipa besingen da draußen die Geliebte, die beim Schein der Nachtkästchenlampe hinter den Vorhängen ihrer Bettnische ihr schönes Gesicht in den Polstern versteckt. Nein, eine Frau hat dieses Lied für eine Aufnahme ausgewählt. Gleichsam als gute Fee, die den Flug der Töne schützend begleitet. „Vola, o serenata, vola!“ Ihre Stimme klingt so wundervoll, dass man gar nicht auf bravouröse Spitzentöne wartet. Es genügt die Skala vom e‘ bis zum f“.
Anders auf der Plattenrückseite „Carceleras“, nicht wörtlich mit „Prison Song“ übersetzt, aus der von der Handlung her verwirrenden Zarzuela „Las hijas del Zebedeo“ („Die Töchter des Zebedäus“) von Roberto Chapí. In dem Stück muss Luisa sogar zittern, ob ihr geliebter Arturo nicht ihr Halbbruder ist. „Carceleras“ (Gefängniswärterinnen) ist der populärste Song darin. Wir hören atemberaubende Presti. Das Lied Luisas beginnt: „Bei dem Gedanken an den Inhaber meiner Liebe fühle ich einen entzückenden Schwindel.“ Und bald darauf: „Ich liebe meinen Kerl, weil er die Herzen stiehlt mit seiner Anmut und seinem Charme. Er macht mich stolz, weil viele Mädchen sich nach ihm sehnen, und sie bleiben mit ihrer Sehnsucht allein gelassen. Ich bin kapriziös geboren und ich will ihn ganz für mich.“
Auch wenn bei diesem Lied Galli-Curci auf uns sehr temperamentvoll wirkt, wir hätten sie uns nie mit dem Gesichtsausdruck vorgestellt, wie sie uns auf dem ersten Foto von ihr als furchterregende Lucia begegnete.
Amelita Galli wurde am 18. November 1882 als Tochter des aus dem gehobenen Mittelstand stammenden Mailänder Geschäftsmanns Enrico Galli und seiner Frau Enrichetta geboren. Mit sieben Jahren sah sie ihre erste Oper, Meyerbeers Die Hugenotten, und war vom Ballett so angetan, dass sie daheim ihre Puppen entsprechend tanzen ließ. Dem Freund der Familie Pietro Mascagni musste sie nach einem heimischen Liederabend zu Bellinis Puritani versprechen, keine Karriere als Pianistin anzustreben, sondern alles zu unternehmen, um ihr Talent zu einer außergewöhnlichen Sängerin weiterzubilden. Aber die Familie geriet in finanzielle Bedrängnis und ihr Vater setzte sich mit ihren beiden Brüdern nach Argentinien ab. So war sie gezwungen, sich viel im Eigenstudium anzueignen, indem sie klassische Gesangslehrbücher studierte, Sopranistinnen zuhörte und sich selbst am Klavier begleitete.
Ihr Debüt mit stürmischem Erfolg feierte sie 1906 mit vierundzwanzig Jahren als Gilda in der apulischen Hafenstadt Trani, einer Stadt in der Größe von St. Pölten in Niederösterreich bzw. Bad Homburg. Zwei Jahre später heiratete sie den Marchese Curci. Nach ihrer Scheidung ehelichte Galli-Curci 1921 ihren Klavierbegleiter Homer Samuels, der für ihre Stimme auch Lieder komponierte. Monatelang konnte sie sich nach einer Typhusinfektion nicht erholen, so dass die Madrider Oper auf ihr längeres Gastspiel eingestellt vor dem Ruin stand. Um das zu verhüten, willigte sie ein, die Rosina im Rollstuhl zu singen.
Ihre Tourneen führten sie über Europa hinaus, weg von den Nöten des Ersten Weltkriegs, zunächst nach Südamerika. Im Jahr 1915 hatte sie in Buenos Aires als Lucia zweimal Enrico Caruso als Partner. In den Vereinigten Staaten traf sie trotz ihrer bisherigen Erfolge als unbekannte Künstlerin ein. Mit der Victor Talking Machine Company unterzeichnete sie 1916 einen Vertrag für Schallplattenaufnahmen, der sich als geschickte Karriereförderung herausstellte. Die Firma, die auch Grammophone herstellte, hatte auch das Recht, auf ihren Schellackplatten das berühmte Logo „His Master’s Voice“ zu führen und ging vertragliche Verbindungen mit der europäischen Gramophon Company ein.
Von 1921 an gehörte Galli-Curci zum Ensemble der MET. Offiziell verabschiedete sie sich 1930 von der Opernbühne, da ihrer Auffassung nach der alten Oper in der ihr bekannten Form keine Zukunft mehr beschieden war, und wollte sich auf Konzerte beschränken. Doch chronische Stimmbandentzündungen und eine Schilddrüsenoperation, bei der eine Schädigung des Stimmnervs eintrat, veranlassten sie, sich mit ihrem Ehemann Homer Samuels in ein zufriedenes Privatleben nach Kalifornien zurückzuziehen, wobei sie auch noch weiterhin Gesangsunterricht erteilte.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 5. April 2021, für
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Schweitzers Klassikwelt 31: Eine Lanze brechen für Dr. Birgit Meyer, Intendantin der Oper Köln
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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Vor über 10 Jahren hat ein guter Freund mich davon überzeugt, mir ein Grammophon zu zulegen. Er spielte mir einige Aufnahmen auf seinem Gerät vor, und ich war begeistert. Für mich tat sich eine neue Welt auf, die vielen Sänger*innen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Viel Neues gab es zu entdecken, und wo fange ich an. So kam ich auch zu zwei Aufnahmen von Amelita Galli-Curci. Die eine war „La Partida“ aus dem Jahr 1916, und die zweite „Caro nome“ vom 02.02.1917. Trotz der vielen anderen beeindruckenden Stimmen, bin ich besonders ihrer verfallen. Ich sammele seitdem nicht nur ihre Aufnahmen, sondern auch Programme, Zeitungsartikel und andere Veröffentlichungen.
Da Amelita Galli-Curci nicht so im Focus im Verhältnis zu anderen Interpreten*innen steht, habe ich mich sehr darüber gefreut, einen Beitrag über sie zu lesen, und danke Ihnen recht herzlich.
Frank Mengewein