„Tosca“ an der Bayerischen Staatsoper. Foto: © Wildfried Hösl
Den Rat meines Deutschlehrers, die im Unterricht durchgenommenen Dichtungen im Laufe des Lebens immer wieder zur Hand zu nehmen und zu lesen, da wir in zunehmendem Alter ein tieferes Verständnis gewinnen könnten, habe ich nicht gerade fleißig befolgt. Schillers Dramen kamen mir schon im Gymnasium zu konstruiert vor, Goethes „Faust“ haben wir in Übermaß durchgenommen. Interessant waren nur neue Akzente und Sichtweisen von RegisseurInnen. Außerdem wartete viel zeitgenössische Literatur darauf entdeckt zu werden.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Welche Facetten der Wiederbegegnung haben meine Frau und ich im Zeitraum von mehr als sechzig Jahren bei Opern gemacht?
Prima la musica! Immer wieder aufs Neue von Puccinis „Tosca“ in Bann gezogen, von einer Nilsson, Jurinac, Leonie Rysanek, von den Polizeipräsidenten Hotter, Berry, Protti, Masurok, Hurshell – bei den Tenören waren es vor allem Shicoff, Pavarotti, Atlantow –, stört uns seit einigen Jahren die tendenziöse Habsburgerfeindlichkeit in dieser Oper. Im zweiten Akt hören wir in einer kurzen Szene zu Ehren eines Festes für die Tochter Maria Theresias, der Königin von Neapel Maria Carolina, den Chor aus dem Off. Früher nicht besonders aufgefallen, ist uns diese Persönlichkeit seit der Lektüre der Biografie von Friederike Hausmann „Herrscherin im Paradies der Teufel“ ein Begriff geworden. Liberalen Ideen zugeneigt wandelte sich ihr Verhältnis zu Frankreich nach der Hinrichtung ihrer Schwester Marie- Antoinette.
Die Werke Hindemiths faszinierten mich schon von früh an. Im Herbst 1960 erlebte ich im Wiener Konzerthaus unter der persönlichen musikalischen Leitung des Komponisten sein Werk „Die Harmonie der Welt“ über das Leben von Johannes Kepler. Erst sechzig Jahre später, nach der Lektüre von Josef Tomiskas „Die Geburt von Zeit und Raum“ konnte ich so richtig nachempfinden, was es den Astronomen für einen inneren Kampf gekostet haben muss, die Vorstellung der als ideal geltenden kreisförmigen Bewegung der Planeten aufzugeben.
Eine Art Déjà-vu aus „Pique Dame“ erlebte ich in einer Burg in Südtirol. Dorthin empfohlen, weil ich an einem Bild eines verstorbenen Tiroler Malers Interesse hatte, musste ich bei dem Gespräch mit der Gräfin hinnehmen, dass sie anscheinend nur seine Studienskizzen nach Originalen der Wiener Albertina besitzt. Das wollte ich einfach nicht glauben und schlich in der Nacht beim Schein einer Taschenlampe durch die einsamen Gemächer der Burg, mit dem Risiko plötzlich im Schlafzimmer der Burgherrin zu landen.
Meinen ersten großen Eindruck von Debussys „Drame lyrique“ gewann ich als junger Student. Zehn Jahre später erlebte ich das Stück in der gleichen Inszenierung zum zweiten Mal. Was für ein ganz anderer Zugang! Eheliche Probleme waren nicht mehr bloß eine literarische Erfahrung.
Mozarts „Il sogno di Scipione“ erlebten wir als Vorpremiere für die Salzburger Festspiele 2006 im Klagenfurter Stadttheater in einer genialen Bearbeitung des Regisseurs Michael Sturminger, jetzt durch seine Salzburger „Jedermann“-Inszenierung ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die ursprünglich vokal-instrumentale Huldigungsmusik wird zu einer Oper und der Feldherr Scipio Aemilianus steigt von seinen Kothurnen und wird zu einem in unsrem Leben oft beobachteten bürgerlichen Mann, der endlich heiraten will, zwischen zwei Frauen sich nicht entscheiden kann und schließlich die naheliegende Dritte wählt. Welcher Mann, der lange Single geblieben ist, kennt diese Situation nicht?
Donizettis „L’elisir d’amore“ und die Liebesbeteuerungen des Sympathieträgers Nemorino sehen wir heute kritischer. Wohl zeigt er zum Schluss seine Einsatzbereitschaft, doch Verliebtsein ist lange noch kein Verdienst und bei einer Beziehung kommt es in erster Linie auf die Empathie an.
Wie sahen wir in jungen Jahren Verdis „Don Carlos“? Da standen im Vordergrund die Opfer der Staatsräson, die Bewährung von Freundschaft, unglückliche Liebesbeziehungen, die Macht der Inquisition. Heute gehen die Reflexionen tiefer. Die Oper wird uns zur Apologie der Sinnhaftigkeit des Lebens trotz unerfüllt gebliebener Lebensträume, trotz schicksalhafter Durchkreuzung gottgewollt geglaubter Ziele.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 10. August 2021, für
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Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 40: Der Reiz der Vielfalt der Stimmlagen