„Umgekehrt ist auch gefahren.“ („Der Rosenkavalier“, 2. Akt, Baron Ochs)
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Was die zweite Änderung betraf, war es eine angenehme Überraschung, am abendlichen Besetzungszettel statt Arnold van Mill Walter Kreppel als „Sparafucile“ zu entdecken, der sich schon in der vorherigen Spielzeit als tiefenmächtiger Berufsmörder vorgestellt hatte. Doch bald kam die Enttäuschung, denn leider vermissten wir an diesem Abend seine „Fagotttöne“.
Im Wochenprogramm las man’s anders. (Frei nach Friedrich Schillers „Die Piccolomini“) Schon beim ersten kurzen Blick auf die Besetzung schaute es wie ein ganz andrer Text, ja wie eine andere Schrift aus. Nur ein Protagonist blieb von der Ankündigung übrig. Kein Windgassen als Florestan, kein Hans Hotter als Pizarro. Anton Dermota sang den im Gefängnis Schmachtenden. Rolf Polke aus Graz gab als Gastspiel den Bösewicht. Neugierig Oskar Czerwenka einmal nicht als Buffo zu hören, sprang der nicht sehr biedermeierlich wirkende Walter Kreppel als Rocco ein.
Es wäre eine von nur drei Gelegenheiten gewesen, Teresa Stratas an der Wiener Staatsoper zu erleben, und zwar an dem Abend als Komponist im Vorspiel zu „Ariadne auf Naxos“. Neun Jahre später wird sie an der Opéra Garnier in Paris die erste „Lulu“ der dreiaktigen Cerha-Fassung sein.
Doch dann der rote Zettel. In dem Fall war man leicht zu trösten, denn die Einspringerin hieß Marilyn Zschau, die gefeierte Adriana Lecouvreur der Wiener Volksoper.
Ich sehe sie noch vor mir, die verzweifelte Dame, die im Aushang lesen musste, dass nach der Premiere in der zweiten Vorstellung von „Die tote Stadt“ nicht der an der Wiener Staatsoper um vierzehn Jahre dienstältere James King, sondern ein Thomas Moser den Paul singen wird. Moser war damals noch mehr als Mozarttenor im Wiener Gedächtnis eingeprägt. Meine Frau und ich durften ihn später als hervorragenden, zweitbesten Bacchus erleben.
Bald darauf machte ich eine ähnliche Erfahrung wie die besagte Dame. Groß war die Vorfreude auf Catherine Malfitano als Wally. Ich versuchte sogar sie im Amsterdamer Hotel beim Frühstück ausfindig zu machen. Als ich die Stufen vom neuen Muziektheater, das vom österreichischen Architekten Wilhelm Holzbauer entworfen wurde, emporstieg und schon einen Blick ins Programmheft warf, rann mir plötzlich der Schweiß in den Nacken. Es fehlte der Name Malfitano. Das Reisebüro hatte schon von der Umbesetzung in der Nederlandse Opera gewusst und nahm dasselbe von mir an. Dafür schenkte es uns später einen Flug nach Paris für die Opéra Bastille.
Die Südafrikanerin Mimi Coertse war ein Wiener Opernliebling. Sie debütierte an der Wiener Staatsoper 1956 als Königin der Nacht und sang an der Wiener Volksoper 1965 die Premiere von „Lucia di Lammermoor“ mit Alfredo Kraus, nachdem in Graz ihretwegen diese Donizetti-Oper auf den Spielplan genommen wurde und ihre Lucia eine riesige Begeisterung ausgelöst hatte. Am 21. April 1971 wurde als notwendiger Ersatz für Mimi Courtse Sonja Poot aus Nürnberg eingesetzt. Für das Wiener Publikum war Frau Poot ein unbeschriebenes Blatt. Es gibt aber viele Parallelen zu Mimi Coertse. Ihr Name zeigt ebenfalls niederländische Herkunft. Sie wanderte mit ihren Eltern nach Simbabwe (damals Rhodesien) aus und erhielt in Harare (dem damaligen Salisbury) ihre erste Ausbildung. Zu weiteren Studien kam sie nach Amsterdam und an die Musikakademie Wien. Ihr Bühnendebüt am Stadttheater von Bonn war die Konstanze. Auch für sie inszenierte man dort „Lucia di Lammermoor“. Das alles war uns unvorbereitet wegen der kurzfristigen Besetzungsänderung nicht bekannt. Im Gegensatz zu den USA erhofft sich das konservative Wiener Publikum bei einem neuen Namen keinen aufgehenden Stern, aber Sonja Poot löste Begeisterungsstürme aus. Ein deutlich zu Gehör gehendes Tremolo soll aber nicht unerwähnt bleiben. Die Sängerin war sichtlich von ihrem Erfolg so bewegt, dass sie von ihrer Begleiterin gestützt vor den Fans am Bühnenausgang erschien. Ein Jahr später wurde sie ohne die Notwendigkeit eines neuerlichen Einspringens wieder eingeladen unter Argeo Quadri mit dem Staatsoperntenor Giacomo Aragall als Partner wieder die Lucia in dem Haus zu singen.
Unser Neffe besuchte uns mit seiner Frau in Wien glücklicherweise gerade zu der Zeit, in der „Die Walküre“ am 2. Dezember 2007 Premiere hatte. Doch im zweiten Akt, während des vertraulichen Gesprächs Wotans mit seiner Tochter Brünnhilde, stimmte da etwas nicht. Der Göttervater ging merklich ein. Unsren was Opern betrifft unerfahrenen Gästen äußerten wir die Befürchtung, am Ende der Pause nach Hause geschickt zu werden. Wirklich warteten wir ungewohnt lange auf das den Beginn des letzten Akts ankündigende Klingelzeichen. Dann trat Staatsoperndirektor Ioan Holender vor den Vorhang und verlautbarte, dass Oskar Hillebrandt vom Bühnenrand die Partie des Wotan gesanglich übernehmen wird. Was war geschehen? Juha Uusitalo hat übrigens seinen „Stimmdoktor“ von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden. Am Morgen der Premiere verspürte der Bassbariton Halskratzen. Auch für einen mit SängerInnen erfahrenen Arzt war es zu dem Zeitpunkt nicht möglich festzustellen, ob es sich um einen beginnenden Infekt oder um eine Überforderung von den Proben handelte. Uusitalo gab sich selbstbewusst. Einer seiner besten Fliegenden Holländer hatte er in Tokio gesungen, wo er grünen Schleim und sogar Blut gehustet hatte. Aber gegen die auftretende Luftröhrenentzündung hatte er diesmal keine Chance. Oskar Hillebrandt erzählt über seinen berühmtesten „Einspringer“: Er sei in einer Pizzeria gesessen, als ihn Ioan Holender anrief, ob er innerhalb einer halben Stunde als Wotan einspringen könne. Wir schätzen bei ihm seine volle und nicht angeraute Tiefe beim Herabsteigen von exponierten Höhen, was anderen Bassbaritonen schwer gelingt. Bei unseren späteren, nicht sehr erfolgreichen Recherchen gibt Juha Uusitalo Rätsel auf. Ihn soll das gleiche Schicksal wie Boris Christoff getroffen haben, ein Gehirntumor. Ja, er wurde sogar totgesagt. Wir hörten Uusitalo wieder im Frühjahr 2009 als Rheingold-Wotan und im Herbst 2010 als Cardillac. Im Spielplanarchiv der Wiener Staatsoper scheint er als Neunundvierzigjähriger noch im ersten Halbjahr 2013 als Fliegender Holländer auf. Dann beginnt das „Fading“. Der Rückzug des einst internationalen Hoffnungsträgers in seine Heimat Finnland beginnt und die Berichte beschränken sich meistens auf Liederabende. Diese Rettung der Premiere schlug noch Wellen. Es wurde zur Diskussion gestellt, ob es genügt, dass ein Cover am Tag der Vorstellung nur bis zum späten Vormittag zur Verfügung stehen muss.
Eine Umbesetzung artete einmal zu einem Theaterskandal aus. Diesem Ereignis widmeten wir einen eigenen, längeren Beitrag in der Reihe Schweitzers Klassikwelt unter dem Titel „Tumult in der Oper“.
Es gibt nicht nur turbulente und überstürzte Besetzungsänderungen, sondern auch weit voraus geplante. Während die Premiere von „Samson et Dalila“ am 22.12.1990 und einige Folgevorstellungen mit Agnes Baltsa und Plácido Domingo besetzt waren, sangen in der siebenten bis neunten Aufführung Marjana Lipovšek und Wladimir Atlantow bzw. Carlo Cossutta. Eine Freundin von uns, die schon die Premiere erlebt hatte, gewann den Eindruck, was nicht abwertend zu verstehen ist, von zwei verschiedenen Opern.
Als RezensentInnen haben wir anders und professioneller auf unpopuläre Umbesetzungen durch Absagen zu reagieren als der eine oder andere Fan einer Sängerin oder eines Sängers. Wenn also ein richtiger Star ersetzt werden muss, so stellen wir die weniger bekannte Künstlerin, den weniger bekannten Künstler einmal vor, indem wir informieren, von welchem Opernhaus sie/er gerade gekommen ist und wohin es nach dem Einspringen weiter geht. Da kann es durchaus sein, dass eine Sängerin, ein Sänger von einer kulturell eher unbedeutenden regionalen Hauptstadt nach der Wiener Staatsoper weiter ins renommierte Teatro Comunale di Bologna zieht, die verlangte Partie gerade gesungen hat oder in weiteren Engagements unmittelbar darauf singen wird. Wenn mehrere Vorstellungen durch die Absage leiden, raten wir dem Publikum sich nicht während des Abends zu fragen, wie hätte die/der N.N. diese oder jene Phrase gesungen, sondern sich darauf einzustellen, dass eben diese Sängerin, dieser Sänger die Opernfigur an diesem Abend darstellt. Aus Erfahrung wissen wir, man kann sich in die jeweilige Person einleben und man fährt gut damit. So hat Anna Pirozzi nach ihrem Einspringen als Lady Macbeth anstelle der Netrebko an der Wiener Staatsoper in der Premiere von „La forza del destino“ an der Opéra National de Paris erneut für diese „Ausnahmesängerin“ die Leonora singen müssen. Dabei gelang der „zweiten Anna“ ein hochbejubeltes Debüt an der Pariser Oper.
Bei einer kurzfristigen Besetzungsänderung der Sieglinde stellten wir nach der Vorstellung fest, dass die Sopranistin als Tannhäuser-Elisabeth unsre durch eine Opernzeitschrift hochgeschraubten Erwartungen bei der Wiener Premiere nicht erfüllen konnte. Aber jetzt erlebten wir sie als Sieglinde ganz anders. Unser Resümee: Wie im Leben ist es schön, wenn man bei einem Menschen plötzlich ungeahnte schöne Seiten entdeckt.
Wir sind Paul Schöffler-Fans. Seinen legendären Hans Sachs kennen wir leider nur von der Schallplatte. Im Lauf der Jahre folgte in dieser Partie in der Wiener Staatsoper immer häufiger Otto Wiener, der zwar sehr wortdeutlich, aber dessen Stimme nach unserem Geschmack zu hell gefärbt war. Wehmütig stimmte da einmal eine kurze Notiz in einer Zeitung: „Heute Abend singt anstelle von Otto Wiener Paul Schöffler den Hans Sachs.“
Lothar und Sylvia Schweitzer, 21. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“