Georg Nigl als Orest in Manfred Trojahns Musiktheater „Orest“, Wiener Staatsoper, Foto: Michael Pöhn
von Lothar und Sylvia Schweitzer
In der Spielzeit 2019/2020 wurde im November Manfred Trojahns Musiktheater „Orest“ erstmals in Wien aufgeführt und erst im Februar kam die „Vorgeschichte“, die „Elektra“ von Richard Strauss wieder auf das Programm. Wir wendeten damals ein, es wäre besser, immer zuerst die „Elektra“ zu spielen und mit wenigen Tagen Abstand die inhaltliche Fortsetzung des ein Jahrhundert später entstandenen Werks. Es stellt sich nach dem Richard-Strauss-Einakter die Frage, wie der Bruder der Elektra seine Tat verarbeiten wird.
Nach der „Orestie“, einer Trilogie des Dramatikers Aischylos, bittet im dritten Teil „Die Eumeniden“ Orest Apollon, der ihm den Befehl zum Mord an Klytaimnestra gegeben hat, um gnädigen Beistand. Noch sind die „scheußlichen Jungfern, die greisen Urzeittöchter, denen sich weder Götter, Menschen, noch Tiere zugesellen“, im Tempel des Apollon vom Schlaf bezwungen worden. Aber sie, die Erinyen, das personifizierte schlechte Gewissen, werden Orest trotz seiner Reinigung im Tempel des Apollon weiter jagen und der Gott rät ihm sich in Athen Recht zu holen. Dort werden Richter milderen Worts zu finden sein. Klytaimnestra erscheint. Sie fühlt sich gott-verlassen und opfert den Erinyen. Sie erwachen und machen den Göttern, vor allem Apollon Vorwürfe. Apollon erscheint und wirft sie aus seinem Tempel, der ihnen verwehrt ist. Apollon sieht im Vordergrund das Eheband und blutsverwandt ist nach damaliger Anschauung nur der Vater mit seinem Samen. Die weibliche Eizelle ist noch nicht entdeckt. Wie wurden wohl Ähnlichkeiten mit der Mutter damals gedeutet?
Athene erscheint. Die Erinyen überlassen Athene den Schiedsspruch. Jetzt ist Orest am Wort. Er verweist auf das Gebot des Apollon, aber Athene soll entscheiden. Sie muss fürchten, dass im Falle ihres Freispruchs die Erinyen der ihr geweihten Stadt schaden werden. Daher soll der Aeropag mit entscheiden. Athene gibt als Letzte ihre Stimme ab, für Orest. Sie, die aus dem Haupt des Zeus Geborene, kennt keine Mutterliebe. Es herrscht Stimmengleichheit, deshalb geht das Urteil für Orest aus. Die Erinyen wollen sich dafür an Athen rächen. Athene versucht ihnen klar zu machen, dass bei Stimmengleichheit nicht die Schmach auf sie fällt. Geschickt versteht sie die Erinyen umzustimmen, dass sie als Wohlgesinnte (Eumeniden) den Athenern gegenüber, die sie achten und verehren, in dieser Stadt eine neue Heimat finden werden.
In Trojahns „Orest“ treten die Götter etwas zurück bzw. nicht mehr auf. Orest vernimmt Frauenstimmen, die jedoch nicht als Rachegöttinnen in Erscheinung treten, aber den Zuschauerraum als schlechtes Gewissen ausfüllen sollen. Er pilgert auch nicht zu Pallas Athene. Sein göttlicher Auftraggeber erscheint in zwei Identitäten, als Apollon und als sinnlicher Verführer Dionysos. Während es Elektra noch gelingt, dass ihr Bruder Helena als Ursache allen Übels tötet, rettet Orest deren unschuldige Tochter Hermione aus dem verderblichen Griff Elektras mit Hilfe eines Tanzes von Dionysos. Auf der anderen Seite versucht Apollon in der Gestalt des Dionysos weiter Orest zu beeinflussen, der sich aber endgültig von dem Gott lossagt.
Der Gegensatz zwischen Helena (Laura Aikin) und ihrer Tochter Hermione (Audrey Luna) treffend in Szene gesetzt von Marco Arturo Marelli an der Wiener Staatsoper Foto: Michael Pöhn
Von der Götterwelt kommt kein Heil. Orest will seinen eigenen Weg finden und mit Hermione eine neue Zukunft suchen. Am Ende der Oper steht ein Aufbruch ins Ungewisse. Werden die anklagenden Frauenstimmen verstummen? Die zweite Waagschale (Orests bessere Zukunft) soll so viel an Gewicht bekommen, dass die erste nicht mehr herunter drückt.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 4. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 60: Die Genese von „Elektra“, Klassik-begeistert.de
Richard Strauss, Elektra Staatsoper Hamburg, 24. Januar 2023