Schweitzers Klassikwelt 88: Wie erlebte man die Opern zur Zeit ihrer ersten Aufführungen im Vergleich zu heute?

Als Herausgeber von klassik-begeistert.de gratuliere ich unserem „senior writer“ Lothar Schweitzer – mit ungehöriger Verspätung – zu seinem
80. Geburtstag. Alles Gute, Glück, Gelassenheit und Gesundheit, lieber Lothar, und allzeit eine Handbreit Wasser unterm Kiel. Dank Lothar haben
wir jetzt eine Autorenaltersspannbreite von 21 bis 80 Jahren. Fast 60 Jahre trennen den Apotheker Lothar von unserem jüngsten Autor, den Studenten Leander Bull. Lothar könnte sein Urgroßvater sein.

Unser senior writer schrieb mir: „Ich bin an einem neunten April geboren, neun ist meine Lieblingszahl, ich tendiere großväterlich erblich belastet zu allem Neuen. Deswegen schreibe ich auch das Binnen-I, obwohl ich die Gender-Philosophie großenteils ablehne, außer beim tiefen e der Altistinnen. Da überkommt mich ein prickelndes Gefühl. Das Schöne am Alter ist der Überblick. Ich hatte privat ein sehr bewegtes Leben… Letzten Endes wurde ich mit Sylvia, deren Gesangspädagogin Ella Firbas uns schon in den Sechzigerjahren zusammenbringen wollte, sehr glücklich. Mir wird schwindlig, wenn ich daran denke, aus welchen gefährlichen Situationen ich in meinem Leben entkommen bin.“

Lieber Lothar: Glück auf! 100 weitere Schweitzers Klassikwelten!

Herzlich, 
Andreas

 

Ein Bild, das Text, Schrift, Etikett enthält. Automatisch generierte Beschreibung

Kritische Anmerkungen zum Thema „Werktreue“

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Der 4. Februar 1973. Es war das erste „Aida-Erlebnis“. Mit Gwyneth Jones, Plácido Domingo und Riccardo Muti am Pult. Und wie ganz anders berührte uns fast genau fünfzig Jahre später diese Verdi-Oper, in der viel vom Krieg die Rede ist, wenn jetzt gerade nicht weit entfernt von unsrem Land ein unbarmherziger Krieg tobt!

So stellt sich die Frage: Kann eine Oper auch beim Streben nach einer so genannten „werktreuen“ Inszenierung immer die gleichen Gefühle hervorrufen? Die Regie hatte die interessante Idee geboren, bei Operetten, die während des Ersten Weltkriegs ihre Premiere hatten, Kriegsszenen einzublenden. Doch war damit eine ungeschönte Echtheit garantiert? Denn das Publikum strömte damals ins Theater, um abzuschalten und zu vergessen, um sich einer Illusion hinzugeben.

Die Regisseurin und Medienkünstlerin Margo Zālīte macht uns aufmerksam, dass in „Così fan tutte“ die Leute sich nicht verlieben, sie entscheiden sich für eine Liebe. Es ist das Gegenteil von unsrer Gegenwart. Der kleine, aber feine Unterschied. Und war überhaupt damals die Gefühlswelt bei sowohl hoher Kinder- und Wöchnerinnensterblichkeit nicht andrer Art? Zur Zeit der Komposition der „Così“ starb Mozarts notgetaufte Tochter Anna am Tag ihrer Geburt. Es war das vierte frühe Sterben eines ihrer Kinder. Und auf den Friedhöfen lagen reihenweise einjährige Kinder. Etwas anders sieht es der Dirigent und Musikwissenschafter Kurt Pahlen. „Nach der marmornen Kühle des Barocks lässt das Rokoko einen Ton des Affekts hören, des Gefühls, der Empfindung.“

Heute können wir auch als Österreicher nicht mehr in Don Alfonso den intellektuellen, aber nicht herzlichen Kaiser Joseph II. erkennen. Aber wer wusste damals von seiner nach dreijähriger Ehe verstorbenen Frau Isabella von Parma, dass diese ihn nie geliebt hatte?

Welch hoch bedeutsame Rollen spielen die Stubenmädeln Susanna und Despina bei Mozart. Uns ist dabei nicht mehr bewusst, dass damals Mütter heranwachsender Söhne aus noblem Haus diese, wenn sie hübsch aussahen, gern anstellten mit Blick auf eine kontrollierte Einführung ihrer Söhne in die Liebe.

Kurt Pahlen analysiert in seiner Einführung und in seinen Kommentaren zum Textbuch „Così fan tutte“ weiter: Die Loslösung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, symbolisiert durch die Freiheitsstatue mit flammender Fackel, ja sogar der Sturm auf die Bastille löste im Habsburgerreich vorerst nur ein schwaches Echo aus. Tu felix Austria! Erst das Schicksal Marie-Antoinettes, der jüngsten Tochter Maria Theresias, muss einen Schock bedeutet haben. Man liebte Musik in den Palästen, in den Theatern, in den Kirchen, in den Gasthäusern. Erzherzöge waren Komponisten, Pianisten, Dirigenten, Geiger und Sänger. Der Adel bildete mit vielen seiner Untertanen eine Einheit, was sich auch in der Bildung von Zunamen wie „Bischof“ oder „Graf“ als Kennzeichnung einer Abhängigkeit und in der Mode niederschlug. Differenzierter sah es im letzteren Fall der Ausstatter der Wiener Richard-Strauss-Erstaufführungen, Alfred Roller. Für ihn war die Dienerschaft der Pionier neuer Moden, die erst später in höhere Kreise aufstiegen, was bis heute in unsren Gesellschaftsschichten zu beobachten ist.

Mozart war ein Schnellkomponierer, da er im Kopf alles entwerfen konnte, und man musste ihm – vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt – die letzten Noten noch tintennass aus der Hand reißen, um sie wenigstens einmal noch durchspielen zu können. Waren die Musiker damals geübtere Vom-Blatt-Spieler? Die SängerInnen müssen nach Pahlen etwas Nachtwandlerisches an sich gehabt haben. Das Wort Perfektion ist uns in erster Linie aus dem Mund Herbert von Karajans geläufig. Die Karikaturen allmächtiger Dirigenten waren noch kein Thema.

Der Dirigent der derzeitigen Fidelio-Staffel Axel Kober macht uns aufmerksam: Wenn Leonore Rocco in den finsteren Kerker begleitet, waren die Blasinstrumente Anfang des 19. Jahrhunderts technisch noch nicht so weit entwickelt. Es muss ein unerhörter Klangeffekt gewesen sein, ein Näseln und Knirschen, fast mehr Geräusch als Ton. Auf diese Weise erzeugte Beethoven eine Atmosphäre, die das Grauen dieser Szene klangbildhaft bedrückend und erschreckend vermittelt.

Der Regisseur mit Schwerpunkt Mozartopern und ehemaliger Intendant des Salzburger Landestheaters, Federik Mirdita, stellte fest, dass erst neue psychologische Erkenntnisse Lorenzo Da Pontes „Così fan tutte“ richtig einschätzen.  „Ist das jetzt noch gespielt oder echt?“, fragen sich sowohl wir im Zuschauerraum als auch die Figuren des Spiels. Die Widersprüchlichkeit liegt im menschlichen Wesen, Bühnenfiguren müssen daher komplex sein. „Maske“ ermutigt zu Handlungen, derer man sonst nicht fähig wäre. Nach dem Aufgeben der Verkleidung findet man nicht mehr in die Ausgangssituation zurück. Im 18. Jahrhundert wäre ein Schluss nicht denkbar gewesen, in dem die Mädchen davon überzeugt sind, dass die im Spiel zustande gekommene Paarung die richtige ist. „Così fan tutte“ ist ein Lehrstück, in dem also niemand verurteilt wird. Das Ende einer Lebenslüge.

Auch außerhalb des Theaterlebens gibt es das typische Beispiel einer althergebrachten, aber unzeitgemäßen Inszenierung. Im Hochzeitsritual geschieht die Übergabe der Braut an den Bräutigam durch den Brautvater. Dieses Zeremoniell ist ein Überbleibsel aus einer Zeit, wo noch die Eltern die Ehepartner für ihre Kinder ausgesucht haben. Das Heben des Schleiers war in manchen Kulturen der spannende Augenblick des ersten gegenseitigen Sich-in-die-Augen-Schauens. Auf das weiße Brautkleid wollen wir gar nicht näher eingehen.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 16. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

Schweitzers Klassikwelt 87: Werden die Frauen in den Opern zur Inkarnation der Schwäche? klassik-begeistert.de 2. Mai 2023

Schweitzers Klassikwelt 86: Was uns in Opern am meisten zu Herzen ging klassik-begeistert.de

Schweitzers Klassikwelt 85: Schuld und Sühne klassik-begeistert.de, 4. April 2023

Ein Gedanke zu „Schweitzers Klassikwelt 88: Wie erlebte man die Opern zur Zeit ihrer ersten Aufführungen im Vergleich zu heute?“

  1. Lieber Andreas!
    Das war bei meiner Morgenlektüre von „Klassik begeistert“ eine liebe Überraschung! Von den Wünschen hat mir der Spruch „allzeit eine Handbreit Wasser unterm Kiel“, der für mich neu war, besonders gefallen.
    Herzlichen Dank!
    Lothar

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert