Elisabeth Höngen als Venus, Wiener Staatsoper 1957 – Foto Fayer, Wien
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Zunächst handelte es sich naturgemäß um SängerInnen, die am Ende einer erfolgreichen Laufbahn standen. In der österreichischen Uraufführung von Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ am 17. Mai 1958 sang die mittlere Partie der Gräfin Helfenstein die Altistin Elisabeth Höngen am Anfang ihres sechsten Lebensjahrzehnts. Ältere Opernliebhaber erzählten von ihren großen Wagner-Partien.
Die geborene Westfälin (* 1906) studierte Germanistik und Musikwissenschaft an der Universität und an der Musikhochschule in Berlin. Dadurch gewann ihre Stimme eine besondere Reife, als sie erst mit sechsundzwanzig Jahren in Berlin in Händels Oratorium „Deborah“ öffentlich auftrat. Ihre anschließenden Stationen waren Wuppertal, Düsseldorf und die Semper-Oper Dresden. An die Wiener Staatsoper wurde die Altistin 1943 mit der Ortrud im „Lohengrin“ berufen, wo sie ihre Heimat fand. Sie gastierte an allen namhaften Opernhäusern. In der Premiere von „Pelléas et Mélisande“ am 6. Jänner 1962 war ich noch einmal Zeuge ihrer „Geneviève“. 1971 nahm Elisabeth Höngen Abschied von der Wiener Staatsoper. Als letzte Partie sang sie im gleichen Jahr die Fürstin in Puccinis „Schwester Angelica“ an der Wiener Volksoper.
Gleichsam im letzten Moment konnte ich noch Ludwig Webers profunden Bass als „Commendatore“ im Mai 1960 erleben. Über ihren Kollegen erzählt Ira Malaniuk in ihrer Autobiografie „Stimme des Herzens“ von den Bayreuther Festspielen: „Wenn Ludwig Weber als König Marke seinen Monolog sang, musste ich aufpassen vor Ergriffenheit nicht aus der Rolle zu fallen.“ (Siehe auch Schweitzers Klassikwelt Nr. 19 und 20)
Schon mehr gegen Schluss der Oper wurde der Auftritt des Bacchus mit James McCracken in „Ariadne auf Naxos“ zur Sensation des Abends. Sein heldischer Tenor war wahrhaft göttlich! Heute sehen wir das bei ihm und seinen meist schwächeren Nachfolgern differenzierter. Bei allem Glanz fehlte das Crescendo vom eher schüchternen, knabenhaften Bacchus, der erst durch die Begegnung mit Ariadne zum Gott wird. Unglücklicherweise nahmen wir nie die Chance wahr, McCracken als Otello zu hören. Wir hätten dazu in den Sechzigerjahren an der Wiener Staatsoper reichlich Gelegenheit gehabt. Seine Stimme war ungewöhnlich schwer und „wird immer Geschmackssache bleiben“, wie anlässlich einer Schallplattenproduktion von Verdis „Otello“ zu lesen war.
Zweimal gastierte der besonders in Mozart- und Rossinipartien gefragte Italo Tajo im Mai 1960 an der Wiener Staatsoper als Leporello, den sich damals Erich Kunz und Walter Berry teilten, selten mit Otto Edelmann und einmal mit Alois Pernerstorfer. Sein Bühnendebüt 1935 als Zwanzigjähriger war der Fafner (nicht Fasolt!) unter Leitung von Fritz Busch, der als Gründer der Glyndebourne Festival Opera gemeinsam mit Max Reinhardt-Schüler und Regisseur Carl Ebert, den Bassisten einlud, ihm dorthin als Chormitglied und als Comprimario zu folgen. 1939 kehrte Italo Tajo nach Italien zurück. 1942 (!) wirkte er als Doktor an der römischen Oper bei der italienischen Uraufführung von Bergs „Wozzeck“ mit, was demonstriert, dass der Nationalsozialismus Deutschlands und der Faschismus Italiens zu unterscheiden sind. 1948 debütierte er sowohl an der San Francisco Opera als auch an der MET als Rossinis Don Basilio. An der Metropolitan Opera kamen später Figaro, Leporello, Dulcamara und Don Pasquale hinzu.
Aber er machte auch Ausflüge ins sogenannte seriöse Bassfach mit Verdis Attila und Banco, ja sogar mit Mussorgskys Boris Godunow. Auf allen Satteln gerecht erschien er in den späten Vierzigerjahren in Filmversionen von „Il barbiere di Siviglia“ und „L’elisir d’amore“. Die Nachwelt muss sich mit wenig Tonträgeraufnahmen begnügen. Am bekanntesten „Rigoletto“ von RCA mit ihm als Sparafucile. Seine PartnerInnen sind Leonard Warren, Erna Berger und Jan Peerce. 1957 ersetzte er am Broadway den berühmten Bassisten Ezio Pinza in der männlichen Hauptrolle des rührenden Musicals „South Pacific“, welches meine Frau und ich am Vivian Beaumont Theater im Lincoln Center erlebt haben. Sein letzter Bühnenauftritt war an der MET mit sechsundsiebzig Jahren in der Partie des Mesners, zwei Jahre vor seinem Tod.
Nur für die erste Staffel der neuen Don Carlos Produktion war Shirley Verrett im Herbst 1970 in Wien als Eboli zu hören. Die Premiere verlief unter einer aufgeheizten Stimmung (siehe Schweitzers Klassikwelt Nr. 49 „Das Bühnentürl“). Shirley Verrett wäre nach der Vorstellung von den jubelnden Fans beinahe an der Wand erdrückt worden.
Ihre Eltern, strenggläubige Angehörige der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, unterstützten ihr Gesangstalent, wünschten sich jedoch für ihre Tochter eine Karriere als Konzertsängerin, da sie die Kunstform der Oper ablehnten. Noch während der Zeit des Kalten Krieges gastierte sie mit ihrer Carmen in der Sowjetunion am Bolschoi-Theater und in Kiew. Etwa fünf Jahre nach ihren wenigen Auftritten in Wien unternahm Verrett für zehn Jahre einen Fachwechsel in das dramatische Sopranfach mit Ausnahme von Partien, die zwischen den Fachgrenzen changierten. Als Desdemona sang sie als farbige Sängerin an der Seite des „weißen“ Tenors James McCracken, was zu einer kühnen Umkehrung der ursprünglichen Rollenkonzeption führte.
Wir haben im Spielplanarchiv der Wiener Staatsoper nachgeforscht. In der zweiten Hälfte der Saison 1996/1997 war sie als Echo („Ariadne auf Naxos“) und als Stimme des Waldvogels („Siegfried“) zu hören, am Anfang der nächsten Spielzeit die Quellnymphe („Ariadne auf Naxos“): Anat Efraty. Wer hätte damals geahnt, dass meine Frau und ich sie nach nicht ganz drei Jahren als Femme fatale Lulu erleben werden. Danach verwandelte sie sich an der Wiener Staatsoper wieder in die naive Sophie („Der Rosenkavalier“). Während ihrer Zugehörigkeit zum Ensemble sang sie auch laut Spielplanarchiv zehnmal eines der verlockenden Blumenmädchen im „Parsifal“. Im letzten Monat der Spielzeit 2002/2003 verabschiedete sie sich von der Staatsoper mit Puccinis Musetta. Nach Operabase zu schließen, ist es bald still geworden. Wir lesen an anderer Stelle unter ihrem Namen von einem Lehrauftrag an der Tel Aviv University.
Ihre Kundry war nicht nur der erste Eindruck von der gebürtigen Berlinerin Gerda Lammers, sondern auch von der Oper „Parsifal“. Sie kam mit der Württembergischen Staatsoper Stuttgart im November 1959 anlässlich eines Gastspiels an die Wiener Staatsoper. Am ersten Abend gab Grace Hoffmann, am vierten und letzten Abend Martha Mödl die Kundry. Der Name „Lammers“, der Besetzung der zweiten und dritten Aufführung war uns neu. Wir lebten damals noch nicht so sehr in einer „Informationsgesellschaft“. Googeln war noch nicht möglich. Wir hatten keine Ahnung, dass sie in dem Jahr schon am ROH Covent Garden für die Kundry eingeladen und zwei Jahre vorher dort schon für Christel Goltz mit nachträglichen Ovationen als Elektra eingesprungen war. Ihr Debüt machte sie 1939 als Konzertsängerin und stand erst 1955, also erst vor vier Jahren, zum ersten Mal auf einer Opernbühne, aber da gleich auf dem Grünen Hügel als die Walküre Ortlinde. Und noch im gleichen Jahr sang sie die Wozzeck-Marie in Kassel.
Als Gast sang sie dann nur wenige Monate nach ihrem Debüt an unserem Haus eine „elektrisierende“ Elektra, wie es in einem Feuilleton unvergesslich geschrieben stand und was ich bestätigen kann. Auch diesmal führte sie in eine mir vorher unbekannte Oper ein, die so anders klang als ein „Rosenkavalier“ und eine „Ariadne“. In den vierzig Aufführungen der nächsten sieben Jahre an der Wiener Staatsoper verkörperte sie siebenmal diese Tochter Agamemnons.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 19. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“