Schweitzers Klassikwelt 99: Was uns an dem Opernführer „Opera“ gefällt

Schweitzers Klassikwelt 99: Was uns an dem Opernführer „Opera“ gefällt  klassik-begeistert.de, 17. Oktober 2023

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Er ist unhandlich, sein Gewicht dreieinhalb Kilogramm, Breite ein Viertelmeter, die Höhe einunddreißig Zentimeter im großen Gegensatz zu dem berühmten Reclam-Kleinformat von im großen Gegensatz zu dem berühmten Reclam-Kleinformat von zehnmal fünfzehn Zentimetern Breite mal Höhe, ob Opernführer oder Textbuch.

In unserer Klassikwelt Nummer 58 über „Ansprüche an einen Opernführer“ ist „Opera“ mehrere Male als Vorbild angeführt und nur einmal wegen einer vergleichsweise zu kurzen, unanschaulichen Inhaltsangabe kritisiert worden.

Diesmal stellen wir diesen Opernführer allein in den Brennpunkt. Wir begrüßen als Erstes schon die Nutzung einer alphabetischen Reihenfolge der Komponisten und nicht nach deren Lebenszeit, denn wenige werden zum Beispiel wissen, dass Giovanni Battista Pergolesi vier Jahre vor Christoph Willibald Gluck das Licht der Welt erblickt hatte.

Was auf den ersten Blick nach dem Öffnen der Seiten auffällt, ist die reichhaltige Bebilderung. Sei es das Lebendig-Machen des Operninhalts durch Szenenfotos oder anhand von interessanten Bühnenentwürfen mit Schwerpunkt aus dem 20. Jahrhundert.

Zur Veranschaulichung Eduard Löfflers Bühnenbildentwurf zu „Orpheus und Eurydike“ von Christoph (Willibald) Gluck mit dazugehörigem Kommentar:

Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln  (TWS)

„Die Schlüsselszene der Oper. Eine Art Feuer– und Wasserprobe wie in der Zauberflöte. Mit negativem Ausgang?“

Das umfangreiche Werk kann von einer Oper mehrere regieliche Sichtweisen einbinden. So das romantisch-verbrämte höllische Reich der Königin der Nacht, das kurz nach Schinkels klassizistischem Bühnenbild entstand,

und ein Szenenfoto einer Inszenierung von Robert Wilson 1991, der die Königin der Nacht als kalte, lieblose Frau darstellt, im bewussten Gegensatz zu ihrer zärtlichen Tochter, dem Ideal einer Frauenfigur.

Opéra National de Paris

Es werden auch unkonventionelle Regieideen bei den Inhaltsangaben und Besprechungen der Opern gebracht. Zum Beispiel die Carmen als eine Proletarierfrau der 1920er Jahre im Stil einer Käthe Kollwitz.

In einer gewissen Weise auch eine Illustrierung sind die zahlreichen Notenbeispiele. Es werden nicht nur Singstimmen gebracht, sondern auch Begleitmotive diverser Instrumente.

Notenbeispiele aus „Fidelio“

Aus gegebenem Anlass schlugen wir vor Kurzem Bellinis „La Sonnambula“ auf. Hier fanden wir wieder einmal in der zu kurzen Inhaltsangabe eine Schwachstelle dieses Opernführers im Vergleich zum Nachschlagen bei Wikipedia, wo auch im Erzählfluss innegehalten wird, um den Anfang von Arien und anderen Musiknummern zu zitieren.

Wir erfahren in unserem „gewichtigen“ Opernführer: „Da erscheint die selbstentrückte, schlafwandelnde Amina in aller Öffentlichkeit und gibt ihre Treue und Liebe zu Elvino kund.“ Mit mehr Emotion lesen wir in Wikipedia, der Konkurrenz zu lexikalischen Bänden: „In dem Moment taucht die schlafwandelnde Amina auf einem Dach auf und alle werden Zeuge, wie sie im Schlaf von ihrem großen Kummer und ihrer Liebe zu Elvino spricht, dem sie aber seine Ungerechtigkeiten in einem Gebet verzeiht.“ Nur hier stand vorher geschrieben, dass Elvino beim Gedanken an seinen scheinbaren Rivalen so in Wut geriet, dass er Amina den Ring vom Finger zog.  In „Opera“ heißt es nach Auflösung der Verwirrungen zum Schluss: „Der Hochzeit steht nichts mehr im Weg.“, anstelle mit Hinweis auf die Cabaletta: „Amina bricht in einen Freudentaumel aus.“  Wir kommen zu dem Resümee, dass im Fall von Opern eine Inhaltsangabe nicht den klassischen Regeln folgen muss und sehr wohl mit Zitaten arbeiten darf und Gefühle ansprechen soll.

Wir lesen in „Opera“ über Daphne: „Daphne, die Tochter eines Flussgottes und der Erdmutter, ist von ganz reiner Natur, verwandt mit Bäumen, Blumen und Quellen.“ Und dann geht es sprunghaft weiter: „Zum Rebenfest zu Ehren des Dionysos werben der Jugendgespiele Leukippos und der Gott Apollo um die reizende Nymphe, doch kann sie ihrer Natur gemäß keine sinnliche Liebe empfinden.“ Der kleinformatige Reclams Opernführer geht da den Szenen genauer nach, wenn es heißt, dass von den Weideplätzen Schäfer und Herden zum Fest der blühenden Rebe heimkehren. Und anschaulich wird der Auftritt Daphnes im Licht der Abendsonne geschildert. In ihrem Gesang bittet sie das geliebte Licht noch zu verweilen, weil nur in seinem Schein ihr nahe sein kann, was sie liebt: Bäume, Schmetterlinge und Quelle. Zärtlich schmiegt sie sich an den Baum, der geschwisterlich mit ihr herangewachsen ist. Plötzlich springt zu Daphnes Erschrecken Leukippos hinter dem Stamm hervor. Er, der Daphne liebt, versteht ihre kindliche Andacht nicht, sie nicht sein von sinnlichem Verlangen erfülltes Werben. Im nächsten Satz wird berichtet, dass Gaea aus dem Haus tritt und in Sorge auf die Tochter blickt, die den Freund von sich gewiesen hat. Ein Höhepunkt der Oper mit pastosen Alttönen.

Was „Opera“ aber neben dem guten und reichlichen Bildmaterial lesenswert macht, sind seine tiefer gehenden Betrachtungen. Wir verweisen auf unsre Rezension der „Entführung“ im Juni dieses Jahres, wo es um die Frage ging, warum Selim Bassa eine Sprechrolle ist und nicht, wie wir uns vorstellen können, eine Bariton-Partie. Bei „Don Pasquale“ steht: „Wird mit dem alten Herrn grausam umgegangen oder kann nur durch einen schmerzhaften Eingriff des Arztes Malatesta eine unglückliche Ehe verhindert werden?“ Wie eine weniger beliebte Richard Strauss-Oper verständnisvoll nahe gebracht wird, zeigt der Artikel über „Friedenstag“. Ein Szenenfoto der Inszenierung von Peter Konwitschny mit einem Ausschnitt des Bühnenbilds von Johannes Leiacker an der Sächsischen Staatsoper Dresden begleitet der Satz: „Friedenstag ist weniger eine Oper als ein musikalisches Stoßgebet um Frieden.“

Messiaen mit seiner Frau Yvonne Loriod Vogelrufe aufnehmend, 1973 – Privatsammlung Madame Loriod aus „Olivier Messiaen, Leben und Werk“ von Theo Hirsbrunner, Laaber Verlag

Olivier Messiaens Glaubensbekenntnis lesen wir anlässlich seines zentralen Opernwerks „Saint François d’Assise“: „Vögel verkünden die Liebe Gottes und die Liebe zu Gott. Mit ihrer Hilfe kann man sich Schritt für Schritt durch die sinnlich erfahrbare Natur hindurch der göttlichen Wahrheit nähern.“

Lothar und Sylvia Schweitzer, 17. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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