Alle lieben diese Julia! – Polina Semionova als Königin der Darstellung und Göttin der Lüfte

Sergei Prokofjew, Romeo und Julia, Staatsoper Berlin, 5. Mai 2018

Sergei Prokofjew, Romeo und Julia
Staatsoper Unter den Linden, 5. Mai 2018

von Sebastian Koik
Foto: Fernando Marcos (c)

Choreographie und Inszenierung: Nacho Duato
Bühne: Jaffar Chalabi nach Carles Puyol und Pau Renda
Kostüme: Angelina Atlagic
Musikalische Leitung: Paul Connelly
Orchester: Staatskapelle Berlin‘

Julia: Polina Semionova
Romeo: Ivan Zaytsev
Mercutio: Arshak Ghalumyan
Paris: Olaf Kollmannsberger
Solisten und Corps de ballet des Staatsballetts Berlin

Polina Semionova präsentiert sich an der Staatsoper Berlin in Romeo und Julia als Königin der Darstellung und Göttin der Lüfte. Der Regisseur und Choreograph Nacho Duato will ein realistisches, erdiges Ballett mit Bodennähe und lässt ohne Spitzenschuhe tanzen, um größtmögliche Natürlichkeit zu erreichen.

Doch sobald Polina Semionova den Bühnenboden verlässt und in der Luft ist, hält man den Atem an und wird Zeuge ganz, ganz großer Tanzmagie! In Hebefiguren und wenn sie durch die Luft gewirbelt wird, ist bei ihr alles perfekt. Ihre Körperspannung, die Stellung ihrer Arme, Beine, Hände, Füße, des Kopfes im Raum: Jedes Detail ist absolut vollkommen.

Man kann sich nicht schöner durch die Luft bewegen und bewegen lassen als Polina Semionova das hier tut! Sie scheint die Erdanziehung komplett zu ignorieren und bewegt sich scheinbar schwerelos und himmlisch leicht durch die Luft. Das wirkt überirdisch, … und überirdisch schön!

Polina Semionova ist nicht nur eine Göttin der Schwerelosigkeit, sondern auch eine wunderbare Darstellerin: Jugend, Leichtigkeit, Verzauberung, Verliebtheit, aber auch Kummer, Sorge und Drama: Alles spielt diese große Künstlerin wunderbar in Mimik, Gestik und Ausstrahlung. Frau Semionova verkörpert ihre Rolle. Sie ist hier auf dieser schönen Berliner Bühne für drei Stunden Julia.

Und was diese Frau für eine Bühnenpräsenz und Aura hat! Ihr Lächeln ist so natürlich, sympathisch, unschuldig und unendlich schön. Polina Semionova ist eine Julia zum Dahinschmelzen. Am Ende des Abends liebt jeder im Saal diese Julia!

Der russische Gasttänzer Ivan Zaytsev als Romeo ist der Julia ein wunderbarer, stabiler und sie in der Entfaltung ihrer Schönheit unterstützender Partner. Er macht seine Sache sehr gut, doch dass man dafür niemanden in der eigenen Kompanie findet, mutet ein klein wenig rätselhaft an.

Arshak Ghalumyan gibt einen wunderbar draufgängerischen Mercutio. Er tanzt und spielt sehr lebhaft, voller Energie, Witz und Ausdruckskraft.

Sehr, sehr ist schön ist die Anlage der Figur des Paris, Julias ungewolltem Verlobten. Olaf Kollmannsberger stellt ihn in Tanz und Wesen ganz wunderbar dar! Dieser Paris ist nicht der oft gesehene karikaturhafte Unsympath oder Schnösel. Ganz im Gegenteil ist das ein Paris zum Verlieben. Eine junge Frau könnte sich eigentlich kaum einen Besseren wünschen: Er hat ein gutes Herz, ist sensibel, schön, zärtlich, … und ein sehr guter Tänzer. Reich, mächtig und von hohem Ansehen ist er wohl sowieso. Wenn da nicht Romeo wäre!!! In einer alternativen Welt ohne Romeo hätte sie mit diesem Traum-Mann sicher sehr glücklich werden können. Doch wo die Liebe hinfällt: Man kann es nicht steuern.

Alle Tänzer und Orchestermusiker machen es an diesem Abend sehr gut.

Die Inszenierung von Nacho Duato ist sehr gelungen, aber auch nicht wirklich weltbewegend und andere Versionen dieses großen Ballett-Klassikers verdrängend. Diese Inszenierung wird vom Berliner Spielplan verschwinden. Der kurze Besuch beim Priester zwecks Heirat im zweiten Akt wirkt etwas unschön wie eine Blitzhochzeit in Las Vegas. Den Pfarrer sieht das Brautpaar nur aus der Ferne, das wirkt etwas leb- und lieblos und sehr oberflächlich. Ansonsten gibt es nicht wirklich etwas zu kritisieren an der Inszenierung und der Choreograpie.

Das Bühnenbild ist reduziert und sorgt nicht wirklich für Augenschmaus. Dafür tun das die prächtigen Satin-Samt-Brokat-Renaissance-Kostüme von Angelina Atlagic! Julia sieht in ihrem zarten, weißen Kleid aus wie eine frisch aus dem Meeresschaum geborene Botticelli-Primavera. Beim Tanzen zieht Julia Teile des geschickt geschnittenen Kleides wie Schleier hinter sich her. Es sind Bilder der Unschuld, Reinheit, Schönheit.

Als die Amme Julia am Morgen leblos im Bett liegen sieht, stößt sie einen lauten Schrei des Entsetzens aus, der durch Mark und Bein geht. Großartig, wie die Geigen jetzt Spannung erzeugen. Im ersten Akt hatten noch weit horizontal abstehenden Schwerter der Capulets beim Tanz den Luftraum durchschnitten, jetzt tun dies große schwarze Flaggen.

Romeo reißt einen alles bedeckenden schwarzen Vorhang herunter, … doch auch dahinter ist alles schwarz. Die schwarz gekleidete Trauergemeinschaft kann gar nicht hinsehen, schaut weg von der aufgebahrten Julia hin zu den Bühnenrändern.

Später, als alle weg sind, erwacht Julia von ihrem Schlafzauber, erblickt das Licht der Welt. Wie den ganzen Abend schon ist Polina Semionova auch als wieder auferstandene Julia das pralle Leben, kann es nicht erwarten, ihren Romeo zu sehen. Wie ein junges Rehkitz springt sie über die Bühne.

Doch dann sieht sie: Ihr Verlobter: tot. Ihr geliebter Romeo: tot.

Julia vollzieht ihre letzte Handlung: Auf ihrem Romeo liegend erdolcht sie sich kunstvoll, um sich im Liebestod mit ihrem Ein und Alles zu vereinen.

Riesenapplaus, Jubel, Bravo-Rufe.

Alle lieben diese Julia!

Sebastian Koik, 10. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de

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