Das Hamburger Publikum kniet vor Ballett-Stars wie dem 1976 engagierten Kevin Haigen

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II  Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2023

Kevin Haigen in Josephslegende (YouTube, Videostill)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II

Tanz war bei Neumeier Ausdruck der seelisch-emotionalen Befindlichkeit. Mit einem Mal öffneten sich auf der Ballettbühne psychologisch nachvollziehbare Welten und man ging nach der Aufführung nicht nach Hause wie nach einer Holiday on Ice-Vorstellung. Julia, Marie, Natalia oder König Ludwig stülpten ihr Inneres nach außen, nicht durch Prosa oder Gesang, sondern allein durch Tanz und darstellerische Kraft.


von Dr. Ralf Wegner

In rascher Folge nahm sich Neumeier weiterer Klassiker an. So 1974 seine Version von Tschaikowskys Nussknacker, in dem ein junges Mädchen namens Marie von dem Tanzlehrer Drosselmeier in die Ballettwelt eingeführt wird und zwei Jahre später Schwanensee, von Neumeier Illusionen wie Schwanensee genannt. Denn das Stück handelt nicht von einem Prinzen Siegfried, der sich in eine weiße Schwanenprinzessin verliebt und an ihrem schwarzen Ebenbild scheitert, sondern von den letzten Tagen König Ludwigs II. mit Erinnerungen an das Richtfest von Schloss Neuschwanstein, an den weißen Schwanenakt, dem er im Münchner Hoftheater beiwohnte und von einem Festakt mit großem Auftritt der Prinzessin Natalia, umrahmt von Szenen aus der Kerkerhaft und dem Tod im Starnberger See.

Magali Messac, Persephone Samaropoulo und Lynn Charles (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 1976/78, Fotos Holger Badekow)

Unsere erste Nussknacker-Marie war Marianne Kruuse, in einer späteren Vorstellung später Zhandra Rodríguez und ihr Ballettlehrer Drosselmeier Max Midinet, dem Neumeier diese Rolle auf den etwas spiddeligen, biegsamen Leib choreographiert hatte. Jeder Nachfolger in dieser Rolle hatte sich an der famosen Interpretation Midinets messen lassen müssen. Auch König  Ludwig wurde von Midinet mit all seinen Seelenqualen tief bewegend getanzt und dargestellt. Seine Natalia war Persephone Samaropoulo.

1977 folgte Neumeiers nicht mehr an Vorgänger wie Marius Petipa oder Lew Iwanow angelehnte Choreographie nach Shakespeares Sommernachtstraum, in dem der junge Kevin Haigen als Puck zu Begeisterungsstürmen hinriss. Auch in Neumeiers 1978 uraufgeführten Dornröschen-Version überzeugte dieser Ausnahmetänzer mit einer bravourösen Leistung als Prinz Désiré. 1979 premierte in Hamburg die bereits zwei Jahre zuvor in Wien uraufgeführte Josephslegende nach der Musik von Richard Strauss mit Ivan Liška als Potiphar und Donna Wood als Potiphars Weib sowie einem mit seiner unschuldig-virtuosen Art heftig umjubelten Kevin Haigen in der Titelpartie. Daneben gab es aber auch noch modern aufgefasste, eher sinfonische Ballette wie Mahlers III. Sinfonie oder Strawinskys, noch in Frankfurt entstandene Choreographie Le Sacre (beide 1975) mit einer in der zentralen Rolle unvergleichlichen, sich bis zur Raserei erschöpfenden Leistung von Beatrice Cordua.

Was war bei John Neumeier anders. Mit einem Mal standen Menschen auf der Bühne und nicht, wie bei Gastspielen, zum Beispiel des Moskauer Bolschoi-Balletts, akrobatik-kompetente, drillgewohnte Tänzerinnen und Tänzer, denen jede individuelle Darstellung abtrainiert worden war.

Natürlich gab es auch Ausnahmen wie Rudolf Nurejew. Ich sah ihn 1972 in Paris als Albrecht in Giselle. Aber ehrlich gesagt, die Aufführung hinterließ bei mir keinen nachhaltigen Eindruck, während sich die vorgenannten Neumeier-Ballette auf ewig ins Gedächtnis gebrannt hatten.

Mahler III. Sinfonie mit Salvatore Aiello und Le Sacre (aus: Jahrbuch der Hamburgischen Staatsoper 1974/75)

Tanz war bei Neumeier Ausdruck der seelisch-emotionalen Befindlichkeit. Mit einem Mal öffneten sich auf der Ballettbühne psychologisch nachvollziehbare Welten und man ging nach der Aufführung nicht nach Hause wie nach einer Holiday on Ice-Vorstellung. Dabei verzichtete Neumeier nicht auf die technisch schwierigen, optisch beeindruckenden Soli und Pas de deux seiner Vorgänger wie Marius Petipa oder Lew Iwanow. Vielmehr bettete er diese Preziosen ein in eine psychologisch nachvollziehbare Geschichte. Julia, Marie, Natalia oder König Ludwig stülpten ihr Inneres nach außen, nicht durch Prosa oder Gesang, sondern allein durch Tanz und darstellerische Kraft.

Auch etwas anderes war neu. Das Ensemble gewann an Bedeutung, es stand nicht mehr in Hab-acht-Stellung am Rand, möglichst lange unbeweglich wie beim Bolschoi-Ballett, so dass man sich eher darauf konzentrierte, welche der Tänzerinnen sich wohl als erste bewegen möge. Vielmehr gab Neumeier den Ensembletänzerinnen und -tänzern, soweit möglich, konkrete Namen, so dass sie die Rollen jeweils mit individuellem Ausdruck interpretieren konnten. Bei Neumeiers Choreographien war deswegen immer so viel zu sehen, dass auch nach der zehnten Aufführung stets noch etwas Neues auffiel.

Neumeier führte von Anfang an sog. Ballett-Werkstätten ein, möglichst an einem Sonntag­vormittag, bei denen er seine choreographischen Konzepte erläuterte. Auch damit gewann sich der Ballett-Direktor ein treues, seinen Aufführungen begeistert applaudierendes Publikum.

Überregional war allerdings auch eine wohl auf Neid basierende gewisse Häme zu verspüren, selbst eine eigentlich kompetente Ballett-Redakteurin einer damals noch auflagenstarken Hamburger Tageszeitung konnte es nicht unterlassen, immer wieder für sie Negatives in den Vordergrund zu stellen, während die Meriten der neuen, in die Zukunft weisenden Choreographien des Ballettdirektors Neumeier eher am Rande Erwähnung fanden.

Kevin Haigen in Sommernachtstraum, Dornröschen und Josephslegende (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 1977/78/79, Fotos Holger Badekow)

Neben den Ballett-Werkstätten etablierte Neumeier ab 1975 am Ende der jeweiligen Saison Ballett-Tage, an denen innerhalb von zwei Wochen eine Neuinszenierung und seine in den Monaten vorher zur Aufführung gelangten Werke konzentriert wiederholt wurden. Diese Ballett-Tage endeten jeweils mit einer Gala, die Neumeier seinem Idol Vaslaw Nijinsky widmete.

Wir waren am 22. Juni jenes Jahres dabei: Lynn Seymour und Michail Baryschnikow bereicherten mit ihrer Kunst Carl Maria von Webers Aufforderung zum Tanz (Le Spectre de la Rose in der Choreographie von Michail Fokine), Marina Eglevsky, Marianne Kruuse und Zhandra Rodríguez begleiteten den ausgesprochen sprungstarken und charismatischen Ausnahmetänzer Baryschnikow im Le Pavillon d’Armide. Am eindrucksvollsten geriet aber der Abschluss der Gala mit Neumeiers Le Sacre (mit Beatrice Cordua, Persephone Samaropoulo sowie Truman Finney).

John Neumeier spricht in der Nijinsky-Gala I über Vaslaw Nijinsky (aus: Jahrbuch der Hamburgischen Staatsoper 1976/77); Mari­na Eglevsky, Michail Baryschnikow, Zhandra Rodríguez und Marianne Kruuse in Le Pavillon d’Armide (aus: Jahrbuch der Hamburgischen Staatsoper 1974/75); John Neumeier 1975 (aus: Jahrbuch Ballett-Tage 1975, Foto Holger Badekow)

Bei den zahlreichen Folgegalas fiel immer wieder auf, dass sich die prominenten Gäste anderer Kompanien schwer taten, mit den Hamburger Tänzerinnen und Tänzern zu konkurrieren. Lag es an den gewählten Stücken oder doch eher an den sich immer mehr herausbildenden tänzerisch-darstellerischen Fähigkeiten von Neumeiers Ballett-Ensemble?

Weitestgehen bekamen wir Choreographien von John Neumeier zu sehen. Immer wieder ließ er seine Tänzerinnen und Tänzer aber auch in bedeutenden Interpretationen anderer Choreographen auftreten, so 1979 in John Crankos Widerspenstigen Zähmung mit François Klaus als Petrucchio, Lynne Charles als Katharina und Colleen Scott als Bianca. In den späteren Jahren folgten Onegin, ebenfalls von Cranko, La Bayadère von Natalia Makarova oder Don Quixote von Rudolf Nurejew.

Dr. Ralf Wegner, 19. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Die nächste Folge „Kampnagel oder Operettenhaus? Wohin geht John Neumeier mit seiner Ballett-Truppe? Verlässt er sogar Hamburg?“ erscheint am Freitag, 22. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburger Ballett unter John Neumeier, Teil I klassik-begeistert.de, 15. Dezember 2023

Die Kameliendame, Ballett von John Neumeier nach dem Roman von Alexandre Dumas d.J. 48. Hamburger Ballett-Tage, Aufführung vom 4. Juli 2023, Staatsoper Hamburg

48. Hamburger Ballett-Tage, Nijinsky, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 28. Juni 2023

48. Hamburger Ballett-Tage, Nijinsky, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 27. Juni 2023

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