Zwei absolute Traumpaare bereichern das Hamburger Ballett: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko sowie Hélène Bouchet und Thiago Bordin

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V  Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024

Silvia Azzoni, rechts als kleine Meerjungfrau (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 2006/07, Fotos Holger Badekow)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V

Beide Paare, vor allem Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, aber auch Hélène Bouchet und Thiago Bordin waren so aufeinander eingeschworen, das ihre Pas de deux immer zu den Höhepunkten einer Aufführung wurden. Das neue Jahrzehnt begann allerdings mit einem Paukenschlag, und zwar mit Neumeiers ikonischem Ballett Nijinsky.

von Dr. Ralf Wegner

2005 choreographierte John Neumeier für das Kopenhagener Ballett anlässlich des 200. Geburtstags des dänischen Dichters Hans Christian Andersen das Märchenballett Die kleine Meerjungfrau. Eine an das Wasserelement gebundene Nixe rettet einen Schiffsoffizier vor dem Ertrinken und verliebt sich unsterblich in ihn. Sie trennt sich von ihrem Flossenkörper und begibt sich, kaum gehfähig, an Land, um dem Geliebten nahe zu sein. Der hat aber bereits eine andere und die Nixe bleibt allein zurück. Die Geschichte hat natürlich noch mehrere Wen­dun­gen, aber wenn sie am Ende, von dem ebenfalls einsamen Dichter geholt, in den Sternen­himmel hochfährt, bleibt kein Auge im Publikum trocken.

In der Hamburger Aufführungsserie im Jahre 2007 war Silvia Azzoni diese Meerjungfrau und Lloyd Riggins ihr Dichter. Auch die langgliedrige Hélène Bouchet tanzte auf ihre unnachahm­liche Weise die Meerjungfrau, aber nie erreichte jemand die intensive Darstellung der ver­lieb­ten und gequälten Seele so wie Silvia Azzoni. Es ist wirklich schade, dass diese Aufführung nie auf DVD erschien und es ist schwer nachzuvollziehen, dass man auf eine verfilmte Version des San Francisco Balletts zurückgreifen muss, um dieses schöne Werk Neumeiers bewun­dern zu können.

Eine vergleichbare, inzwischen offenbar in der Versenkung verschwundene Choreographie Neumeiers gelangte bereits 1994 als Undine zur Aufführung. Es handelte sich um das Schicksal einer Nixe, die durch die Heirat mit einem Ritter eine Seele erhält, aber an den weiteren schwierigen Umständen zugrunde geht. Andersens Kleine Meerjungfrau basiert auch auf dem älteren Märchen Undine. Neumeier bezieht sich bei seiner Undine-Interpretation wiederum auf Hans Christian Andersen. Was blieb bei uns von Undine in Erinnerung: Vor allem der ätherisch-verzweifelte Versuch von Gigi Hyatt als Undine, sich aus einer großen, meiner Erinnerung nach blauen, sich nach hinten verjüngenden Kiste hinaus in das Leben zu befreien.

Hélène Bouchet, Thiago Bordin und Carolina Agüero (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 2007/13, Fotos Holger Badekow)

Das neue Jahrzehnt begann allerdings mit einem Paukenschlag, und zwar mit Neumeiers ikonischem Ballett Nijinsky. Erzählt wird aus der Biographie des begnadeten, von John Neumeier sehr bewunderten Tänzers Vaslaw Nijinsky. Aber nicht die Biographie ist entscheidend für den anhaltenden Erfolg des Balletts, sondern die psychologisch tiefgreifende choreographische Interpretation der Dreiecksbeziehung zwischen Nijinsky, seinem Förderer und Liebhaber Diaghilew und der ihn in seinen Rollen bewundernden Ehefrau Romola; alles vor dem Hintergrund der beginnenden geistigen Erkrankung und der Erinnerungen an den ersten Weltkrieg.

Während der erste Teil des Balletts mit der eingängigen Musik von Rimsky-Korsakoff und den in rascher Folge ablaufenden Szenen aus Nijinskys Biographie leicht zu fassen ist, gehen die choreographierten Sinnkrisen des Protagonisten im zweiten Teil zur 1. Sinfonie von Schos­ta­kowitsch unter die Haut und brennen sich fest in die eigene Erinnerung ein. Jiří und danach Otto Bubeníček tanzten den Part des Nijinsky, später aber auch, im Laufe der Zeit mit immer eindringlicherer Darstellung, Alexandre Riabko und nachfolgend Alexandr Trusch sowie Aleix Martínez.

Für den geistig verwirrten Bruder Nijinskys Stanislaw schuf John Neumeier ein beeindruckendes Solo, welches Anfangs von Yukichi Hattori mit großer Überzeugungskraft und später vor allem von Aleix Martínez gestaltet wurde. Ivan Urban war der tiefgründig-mephistophelische Diaghilew in der Uraufführung und auch noch, besonders beeindruckend, in der 2018 veröffentlichten DVD-Fassung mit Riabko als Nijinsky, Martínez als Stanislaw und einer als Romola leidenschaftlichen und hingebungsvollen Carolina Agüero.

Nijinsky, mit Aleix Martínez, dem Soldatenensemble und Alexandre Riabko (YouTube Videostills)

Besonders sehenswert ist natürlich das aufpeitschende Soldatenstakkato, bei dem mehr als zwanzig Tänzer synchron zur hammerartig wirkenden Komposition Schostakowitsch’ auf- und abspringen. Solche reinen Männerensembles hat John Neumeier mehrfach geschaffen, am bekanntesten wurde jenes aus der III. Sinfonie von Gustav Mahler. Aber auch in Liliom fas­ziniert das packende Stakkato der Job-suchenden Arbeitslosen. Solche großen Ensembles immer wieder mit langsameren Passagen und Pas de deux zu verbinden, ist eine große Stärke der choreographischen Kunst John Neumeiers. Es wird nie langweilig, man möchte mehr von den Ensembles oder den Pas de deux sehen, schon sind sie vorbei und werden von anderen aufwühlenden Szenen abgelöst.

Dario Franconi (Trigorin), Anna Laudere (Irina), Emilie Mazon (Nina), Lloyd Riggins (Sorin) und Marc Jubete (Konstantin) in Die Möwe (2017, YouTube Videostills)

Zwei weitere bedeutende Stücke wurden in den  2000er-Jahren von John Neumeier choreo­graphiert: Zum einen Die Möwe 2002 nach dem Drama von Anton Tschechow und zum ande­ren ein Jahr später Tod in Venedig nach der Novelle von Thomas Mann.

Die Möwe gewann mit jedem neuen Sehen an Format. Auch das zeichnet die Kunst von Neu­meier aus, eine Komplexität und Vielfalt des Choreographischen, dass anfangs manchmal die Sinne des Zuschauers schlicht überfordert werden. Mit jedem neuen Sehen klärt sich das Bild weiter, bis schließlich für die Tiefe und auch die Breite der tänzerischen Interpretation nur noch Bewunderung übrig bleibt. Vor allem Die Möwe bietet einer Vielzahl von Tänzerinnen und Tänzern die Möglichkeit, sich mit den jeweiligen Rollen zu identifizieren und sie zum Leben zu erwecken.

Wer blieb in Erinnerung? Die großartige Interpretation von Lloyd Riggins als Sorin, Ivan Urban erwies sich als eindrucksvoller Konstantin und Heather Jurgensen sowie später Emilie Mazon zeigten ihr interpretatorisches Können als Nina. Auch Neumeiers Tod in Venedig brauchte seine Zeit, bis dieses Ballett einen als Zuschauer wirklich ergriff. Manche Nebenfiguren sind gewöhnungsbedürftig, mit jedem neuen Sehen nahm die Geschichte des unglücklich liebenden Aschenbach aber immer mehr gefangen, vor allem wenn Lloyd Riggins mit seiner über jeden Anflug von Kitsch erhabenen Darstellungskunst die Bühne dominierte.

Später beeindruckte Christopher Evans, der vom Ausdruck her Riggins durchaus ähnelt, als Gustav von Aschenbach. Außerdem schrieb sich Edvin Revazov mit seiner Darstellung des Tadzio für immer in die Annalen des Hamburger Balletts ein.

Tod in Venedig: Lloyd Riggins und Edvin Revazov (aus: Jahrbücher Hamburger Ballett-Tage 2004/13, Fotos Holger Badekow); Christopher Evans und Atte Kilpinen (Jahrbuch Hamburger Ballett-Tage 2021, Foto Kiran West)

Wie steht es aber nun um die oben erwähnten Traumpaare? Sie tanzten die großen Rollen in den berühmten Stücken. Beide Paare, vor allem Silvia Azzoni und Alexandre Riabko waren so aufeinander eingeschworen, dass ihre Pas de deux immer zu den Höhepunkten einer Auf­führung wurden. Erinnert sei u.a. an die Hauptrollen in Neumeiers Giselle (2003/15/16) oder Crankos Onegin (2014/15). Leider gibt es von ihren herausragenden Pas de deux kaum gute Aufnahmen. Die bei YouTube von beiden eingestellte Version des schwarzen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame vom Internationalen Ballett-Festival in St. Petersburg im Jahre 2010 ist leider recht unscharf, zeugt aber trotzdem von der großen tänzerischen Kunst dieses Paares (Silvia Azzoni, Alexandre Riabko – La Dame aux Camélias – YouTube).

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko am 10.06.2023 im Hamburger Rathaus (Fotos: RW)

Auch Hélène Bouchet und Thiago Bordin tanzten die großen Pas de deux in der Kamelien­da­me mit hoher Beziehungsintensität (2013, mit Silvia Azzoni als Manon Lescaut und Alexandre Riabko als Des Grieux). Bei ihnen gewann man während der Vorstellung durch­aus den Eindruck, dass die Beziehung zwischen beiden über das Bühnengeschehen hinaus­ging. Vielleicht deshalb verließ Bordin 2014 das Hamburger Ballett. Eine entsprechend inten­sive Bühnenverbindung entwickelte sich später zwischen der langgliedrigen Tänzerin und Cars­ten Jung, beispielhaft sei hier wieder der letzte Pas de deux aus Crankos Onegin vom 30. Mai 2015 erwähnt.

Thiago Bordin und Hélène Bouchet in der Kameliendame (2013, YouTube Videostills)

Gibt es weitere Traumpaare beim Hamburger Ballett? Sicher, Anna Laudere schmilzt in den Armen ihres Mannes Edvin Revazov dahin, wenn sie zusammen tanzen (dazu mehr im Teil 6 dieser Serie). Optisch und im tänzerischen Gleichklang ergänzen sich unter den jüngeren Mitgliedern auch Madoka Sugai und Alexandr Trusch, wie in Nurejews Version des Don Quixote oder jüngst in Cathy Marstons Ballett Jane Eyre.

Dr. Ralf Wegner, 5. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Die nächste Folge: „John Neumeier gelingen mit den Uraufführungen von Liliom und Anna Karenina zwei weitere unvergessliche Meisterwerke“ erscheint Dienstag, den 9. Januar 2024.

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III Staatsoper Hamburg, 22. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2023

Serie: 5 Jahrzehnte Hamburger Ballett unter John Neumeier, Teil I Staatsoper Hamburg, 15. Dezember 2023

 

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